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Fragend sehe ich Joana an. "Und was ist das, Diazepam?"

"Diazepam ist ein Beruhigungsmittel. Ich habe diese Tabletten schon bei einigen Mädels aus dem Mirage gesehen, die fressen die Dinger wie Smarties, und ich habe sie auch selbst schon angeboten bekommen, deshalb habe ich mich darüber informiert. Diazepam verringert die Empfindsamkeit der Nervenzellen im Gehirn, die für die Befindlichkeit eines Menschen verantwortlich sind und hat deshalb eine muskelentspannende, beruhigende und schlaffördernde Wirkung. Der Einfluss äußerer und innerer Reize und ihre Verarbeitung wird vermindert und ein Abstand zu äußeren und inneren Erlebnissen geschaffen. Daraus folgt die Verminderung von Angst und Spannung und die emotionale Beruhigung."

"Klingt genau nach dem, was ich aktuell brauche", kommentiere ich ihren Vortrag leise und starre auf die kleine Plastiktüte, die noch immer in der Toilette schwimmt.

Joana macht kurzen Prozess und drückt auf die Klospülung. Das Tütchen tanzt ein wenig im aufwirbelnden Wasser und verschwindet letztendlich in der Kanalisation.

"Nein, Malia, eben nicht", antwortet sie bestimmt. Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände und sieht mir eindringlich in die Augen. "Ich verstehe dich und glaube dir, dass die Tabletten dir gut tun, aber sie machen dich auch super schnell abhängig, was du zum Beispiel daran merkst wenn du die Dosierung erhöhen musst, um eine ausreichende Wirkung zu spüren. Oder hast du schon von Anfang an zwei Tabletten genommen?" Sie zieht ihre Augenbrauen hoch und kennt die Antwort ohne, dass ich was sagen muss.

"Außerdem hat das Zeug echt gefährliche Nebenwirkungen: Schläfrigkeit, Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit und des Reaktionsvermögens, aber auch Benommenheit, Erbrechen sowie Gedächtnislücken. Das mit dem Erbrechen habe ich ja jetzt selbst schon mehrmals mitbekommen, aber kann es sein, dass du in letzter Zeit auch Entscheidungen getroffen hast, die du sonst eher nicht getroffen hättest? Zum Beispiel das, was David da vorhin angedeutet hat?"

Meine Augen weiten sich und plötzlich ergibt alles Sinn. Dass ich oft so schläfrig war und Roy zu seinen absurden Ideen irgendwann zugestimmt habe, obwohl ich vorher noch dagegen war. Natürlich kam das auch daher, dass er unnachgiebig auf mich eingeredet hat, aber es macht Sinn, wenn ich mir vorstelle, dass die Tabletten das positiv verstärkt haben. Dazu die Gedächtnislücken, die sicher auch vom Verdrängen kommen, aber anscheinend noch durch die Tabletten verstärkt wurden.

"Scheiße", stöhne ich leise.

"Hat Roy dich darum gebeten?", fragt sie einfühlsam und wischt mir meine Tränen mit einem Stück Toilettenpapier aus dem Gesicht. Ich nicke nur. Ich sollte ihr alles erzählen, aber ich kann nicht. Zu sehr schäme ich mich für die Dinge, denen ich zugestimmt habe.

"Er ist so ein Mistkerl", schimpft sie. "Dass er im Mirage nicht nur der Hausmeister ist wussten wir wohl beide, aber dass er so weit geht, dir eine Beziehung vorzuspielen und dich soweit zu manipulieren und mit Drogen zu betäuben, dass du dich für ihn verkaufst, ist selbst für ihn eine miese Nummer. Er wusste doch, dass du noch minderjährig bist."

Ich senke beschämt und verletzt den Kopf. "Wusste er, dass du gezwungen wirst?", frage ich Joana und erinnere mich an den Fetzen eines Telefongesprächs, den ich mal mitbekommen habe, in dem er sagte, dass er keine Zuhälter im Laden will.

"Ich weiß es nicht", gibt sie ehrlich zu. "Offiziell betont er ja immer wieder, dass er keine Zuhälter in seinem Laden will, da die immer nur Ärger machen", bestätigt Joana meine Erinnerung. "Aber ich habe auch schon mitbekommen, dass er das trotzdem billigend in Kauf nimmt. Ich habe mich jedenfalls im Gegensatz zu dir nie mit einem offiziellen Vortanzen bei Roy und Joker vorgestellt, das haben alles Radu und Valeria geregelt."

Ungläubig schüttele ich den Kopf und muss mich selbst zitieren: "Die menschlichen Abgründe sind tiefer als ich es je zu träumen gewagt hätte." Joana nickt zustimmend.

"Ich will das alles nicht mehr. Ich will mich nie wieder für Geld, welches ich nicht mal sehe, von so ekelhaften Menschen wie David vergewaltigen lassen. Ich will nicht mal mehr mit Roy zusammen sein. Ich habe die ganze Zeit auf eine gemeinsame Zukunft mit ihm gehofft, durch die ich meiner eigenen schwarzen Vergangenheit entkommen kann, aber die Hölle, in der ich jetzt lebe, ist noch schlimmer als die der ich entflohen bin!" Wieder rinnen mir dicke Tränen über die Wangen. "Aber er wird mich nicht gehen lassen, verdammt. Er wird es niemals akzeptieren, wenn ich ihm sage, dass ich mich trennen will, das weiß ich, und ich bin doch auch auf ihn angewiesen. Ohne ihn sitze ich auf der Straße!" Verzweiflung macht sich in mir breit. Die Situation scheint so ausweglos zu sein.

"Ich auch", erwidert Joana. "Aber nur hier in Deutschland. Es ist zwar nicht viel, was ich in Rumänien habe, aber es ist meine Familie, mein kleiner Sohn, die Freiheit und ein Dach über dem Kopf."

"Das ist doch eigentlich alles was man braucht", stelle ich traurig fest.

Ich habe nicht mal eine Familie.

"Dann komm mit. Lass uns abhauen, Malia. Komm mit mir zu meiner Familie nach Rumänien. Du kannst bei uns bleiben, so lange du willst. Du gehörst für mich zur Familie", sagt sie ernst. Ich nehme sie fest in meine Arme und küsse sie auf die Wange. "Das ist so lieb von dir. Du bist wirklich die beste Freundin, die ich gerade habe."

"Ich meine es ernst Malia. Lass uns keine Zeit verlieren, bevor Roy oder Radu nach uns suchen. Noch werden sie keinen Verdacht schöpfen. Wenn wir jetzt schnell sind, sind wir schon in der Luft, bevor sie überhaupt gemerkt haben, dass wir weg sind. Sie sind vier bis fünf Autostunden von uns entfernt. Das ist ein enges Zeitfenster, dass uns aber wenigstens ein bisschen Vorsprung verschafft. Wir sollten die Gelegenheit nutzen, wer weiß wann wir sonst noch mal so eine Chance kriegen und ob wir dann überhaupt den Mut dazu aufbringen."

Ich denke über ihre Worte nach. In Anbetracht der aktuellen Situation, klingt es wie der Himmel auf Erden mit Joana in einem rumänischen Dorf zu hocken und im Garten auf einer Feuerstelle für ihre Familie zu kochen. Egal was mich dort erwartet, es kann ja nur besser werden.

"Denkst du nicht die zwei werden nach uns suchen?", äußere ich meine größten Bedenken.

"Ich glaube nicht, dass Roy extra nach Rumänien fährt, um dich zu suchen. Und selbst wenn - er wüsste doch gar nicht, wo genau er suchen soll. Rumänien ist groß und unübersichtlich. Und Radu könnte theoretisch schon nach mir suchen, aber nach allem was er mir angetan hat, wäre es nicht besonders klug für ihn zurück nach Mangalia zu kommen, meine Familie ist groß", erklärt sie.

Dann beginnt sie ihre Kosmetikartikel aus dem Badezimmer zusammen zu sammeln. "Wir wohnen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Mangalia, einer schönen Hafenstadt an der Küste des schwarzen Meers, zweieinhalb Stunden von Bukarest entfernt. Das bedeutet, wir müssen von hier aus mit dem Taxi zum Flughafen fahren, nach Bukarest fliegen und dann noch mal gute drei Stunden mit einem Fernbus nach Mangalia weiter."

"Und wie sollen wir das alles finanzieren? Die Reise und unser neues Leben?", frage ich besorgt.

"Ich habe heimlich so viel Geld wie möglich an die Seite geschafft und das trage ich immer bei mir. Ich würde es nie unbeaufsichtigt in Radus Wohnung lassen", gibt sie grinsend zu. "Das reicht erst mal für uns beide und langfristig schauen wir weiter."

"Ich habe auch etwas Geld dabei, zwar nicht meine gesamten Ersparnisse, aber etwas. Und ich habe diese verdammt teure Uhr dabei, die Roy mir zum Abitur geschenkt hat, die könnte ich auch zu Geld machen", denke ich laut.

Joana hält inne und sieht mir prüfend in die Augen. Ich atme einmal tief durch, nicke und klatsche in die Hände. "Dann lass uns keine Zeit verlieren."

Wir packen so schnell unsere Koffer ein, als wären wir auf der Flucht - aber vermutlich sind wir das ab jetzt ja auch.

Als Joana nur wenige Minuten später gerade die Tür des Hotelzimmer hinter uns ins Schloss ziehen will, greife ich nach der Hand meiner Freundin und frage sie erschrocken: "Scheiße, Joana, wie wollen wir denn fliegen? Du hast doch gar keinen Pass!"

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Meine Lieben,

Was sagt ihr nun zu den Zauberpillen?

Und wie findet ihr die Idee, dass Malia und Joana nach Rumänien abhauen wollen?

Meint ihr, ihre Flucht gelingt?

A.

Rot wie die LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt