Prolog - 01. September 1966

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Hogwartsexpress

Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in Lucius aus. Er war voller Vorfreude, spürte aber auch ein wenig Furcht vor dem Ungewissen und vor allem vor den vielen anderen Kindern, denn er war sein Leben lang Einzelgänger gewesen. Die scharlachrote Dampflok, die ihn zu seinem Lebensmittelpunkt der nächsten sieben Jahre bringen würde, hatte gerade den Bahnhof King's Cross hinter sich gelassen und war gen Schottland aufgebrochen. Dass das sagenumwobene Hogwarts irgendwo dort an einem tiefen und dunklen See lag, hatte er in einem der abertausenden Bücher in der Bibliothek seines Vaters gelesen. Abraxas hatte die vielen Fragen, die sein Sohn ihm zu Hogwarts gestellt hatte, unmissverständlich abgewürgt und so hatte Lucius jede noch so winzige, niedergeschriebene Information über die Schule aufgesogen und war begierig darauf, endlich alle Wunder und Geheimnisse, die es dort gab, mit eigenen Augen zu sehen und zu ergründen.

Er sah sich in seinem Abteil um und fing das Lächeln eines sommersprossigen Mädchens auf, das ihm gegenüber saß und mindestens genauso aufgeregt zu sein schien, wie er selbst. Außer ihnen waren noch zwei ältere Schüler hier, die er nicht kannte und, da sie ihre Uniformen bisher nicht trugen, auch keinem Haus zuordnen konnte. Er wusste es zwar noch nicht sicher, aber es war unwahrscheinlich, dass er in ein anderes Haus als Slytherin kommen würde. Seine gesamte Familie war immerhin dort gewesen. Er stammte aus einer alten, reinblütigen Zaubererfamilie und hatte sein Leben lang ausschließlich mit seinesgleichen zu tun gehabt. Nicht alle, wohl aber die meisten Reinblüter waren in Slytherin. Wenn ein Kind wie die drei Prewetts nach Gryffindor kam, war das noch kein Problem, solange sie dennoch die alten Werte hochhielten. Der erlesene Kreis dieser Zaubererfamilien, die so genannten Unantastbaren Achtundzwanzig, traf sich regelmäßig, um seine eigene Erhabenheit über die anderen Angehörigen der magischen Gesellschaft zu feiern. Daher kannte er zwar viele der anderen älteren Schüler, wie Andromeda und Bellatrix Black, Molly Prewett und ihre Brüder Fabian und Gideon, aber auch Gleichaltrige, wie Evan Rosier, der sicher mit ihm nach Slytherin kommen würde, und Jüngere wie Sirius und Regulus Black und deren dritte Cousine Narzissa. Wirklich angefreundet hatte er sich jedoch mit niemandem. Er war immer der etwas merkwürdige Außenseiter gewesen, der sich lieber mit Büchern und der Natur beschäftigte, als mit seinen Altersgenossen.

Seinem Vater war Pünktlichkeit sehr wichtig, daher hatte er dem Hauself Nr. 5, der für die Betreuung und Aufsicht von Lucius zuständig war, aufgetragen, ihn bereits um 10 Uhr am Bahnsteig abzusetzen. Abraxas fand, dass Namen nur Ballast für die kleinen Arbeiter waren, die den morschen Dachstuhl von Malfoy Manor bevölkerten, und hatte sie daher schlicht durchnummeriert. Lucius war also der erste Schüler gewesen, der den Zug betreten hatte, was ein weiterer Grund war, warum er sich nicht auf die Suche nach seinen Bekannten gemacht hatte, die inzwischen sicherlich irgendwo im Zug ein, zwei Abteile in Beschlag genommen hatten. Er hatte Evan draußen auf dem Gang vorbeigehen sehen, aber gar nicht versucht, ihn auf sich aufmerksam zu machen.

Da er weder die beiden älteren Schüler noch das Mädchen kannte, konnte er sicher sein, dass sie keine Reinblüter oder ihre Familien keine Verfechter des reinen Blutes waren. Eigentlich hätte er umgehend das Abteil verlassen oder ihnen zumindest die kalte Schulter zeigen müssen, doch das Mädchen lächelte immer noch. Sie hatte ungebändigtes, karottenrotes Haar und haselnussbraune Augen. Ihre Kleidung war wild gemustert und oft getragen, wie die Flicken auf ihrer Hose ganz offen zeigten. Lucius störte das nicht, im Gegenteil, ihm imponierte die Unbekümmertheit, die sie von Kopf bis Fuß ausstrahlte. Er dagegen trug einen brandneuen schwarzen Anzug, auf dem nicht ein Staubkorn oder auch nur eine Hautschuppe Platz genommen hatte, und dessen enger Kragen ihm fast die Luft abschnürte. Er war die Tristesse und Kälte in Person, während sie das blühende Leben war.

„Hi!", sagte das Mädchen und rutschte von ihrem Sitz, um ihm die Hand zum Gruß entgegenzustrecken, „Ich bin Joan und wer bist du?"

„Lucius", antwortete er und ergriff etwas zögernd ihre Hand.

„Kommst du auch in die erste Klasse?", fragte sie, „Meine Mum war ganz aufgeregt, ich soll ihr heute Abend gleich eine Eule schicken, wenn ich weiß, in welches Haus ich komme. Dad versteht den ganzen Wirbel darum nicht, er ist nämlich ein Muggel, weißt du, aber Mum hat ihm ein paar Bücher besorgt, die hat er auch alle gelesen und jetzt hofft er ein bisschen, dass ich nach Ravenclaw komme, weil da ja die ganz schlauen Kinder sind. Ich denke eher, dass ich nach Hufflepuff komme, wie meine Mum, aber eigentlich ist es ja auch egal."

Lucius war etwas überfordert von ihrem unbekümmerten Geplapper und warf den beiden älteren Schülern einen nervösen Seitenblick zu. Sie hatten ihr Gespräch unterbrochen und beobachteten sie neugierig. Einer von ihnen hatte fast genauso rote Haare wie Joan, der andere war aschblond und konnte ein Grinsen kaum unterdrücken. Scheinbar wussten die beiden im Gegensatz zu Joan recht gut, aus welcher Familie er stammte.

„Ich denke, ich komme nach Slytherin."

„Achso? Naja, selbst wenn, das macht nichts. Ist ja nicht so, dass man deswegen nicht befreundet sein kann, oder?"

„Ich... weiß nicht?", es war mehr eine Frage als eine Antwort.

Joan kramte in ihrer Tasche und zog eine Tüte mit Süßigkeiten heraus, die Lucius noch nie zuvor gesehen hatte. Nicht, dass er bisher in seinem Leben viel Süßes gegessen hätte, die Naschereien der Zauberer waren ihm aber natürlich trotzdem bekannt. Das hier waren aber keine Schokofrösche oder Druhbels Beste Blaskaugummis oder Lakritz-Zauberstäbe. Es waren kleine, einzeln verpackte Riegel, von denen Joan ihm einen reichte.

„Was ist das?"

„Kennst du das nicht? Das ist ein Marathon. Mit Erdnüssen und Karamell drin und Schokolade drum rum. Ist total lecker", sagte sie und hielt nun auch den anderen beiden die Tüte hin, „wollt ihr auch was davon?"

„Danke! Ich liebe diese Dinger", antwortete der Blonde und griff in die Tüte. Er warf seinem Freund einen Riegel zu und riss sofort die Plastikverpackung seines eigenen auf. Nach einem genüsslichen Bissen fügte er hinzu: „Ich bin übrigens Ted und das ist Arthur."

„Und das hier", sagte Arthur, „ist total lecker."

Lucius hielt seinen Marathon-Riegel noch immer ungeöffnet in der Hand. Gleich in der ersten Stunde, die er nicht mehr im Haus seines Vaters verbrachte, Muggelsüßigkeiten mit einem Halbblut und anderen Schülern fragwürdiger Herkunft zu essen, kam ihm schon sehr verwegen vor. Er war nicht gerade der rebellische Typ, hatte bisher aber auch nie wirklich die Gelegenheit dazu gehabt, es einmal zu versuchen. Mit einem entschlossenen Ruck öffnete er die Verpackung und biss in den schokoladigen Riegel. Es schmeckte köstlich, genau die richtige Mischung aus Erdnuss, Karamell und Schokolade. Er schloss für einen Moment die Augen und genoss die Geschmacksexplosion in seinem Mund. Als er sie wieder öffnete, erwiderte er endlich Joans freundliches Lächeln und freute sich auf das spannende Jahr, das vor ihm lag. Er würde nicht allein sein. Das wusste er jetzt.

Lumine III - FeuerprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt