07. August 2008 - Der Baum auf dem Hügel

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Draco starrte seinen Vater an. Sie waren sich erst vor ein paar Tagen begegnet und doch kam es ihm vor wie eine Ewigkeit. Die Vorzeichen hatten sich in der Zwischenzeit mehrfach geändert und jetzt standen sie sich tatsächlich gegenüber, die Spannung beinahe greifbar. Lucius war es schließlich, der sie löste. Er warf seinen Zauberstab beiseite, wie um zu beweisen, dass von ihm keine Gefahr ausging. Diese Geste war so gar nicht das, was Draco von ihm erwartet hätte, und dadurch um so wirkungsvoller.
Jahrelang hatte er sich vorgestellt, wie es wohl wäre, freie Schussbahn zu haben - nichts mehr zwischen ihm und seinem Vater, nur die Möglichkeit, ihn zu verletzen, ihm weh zu tun, ihn zu töten. Doch diese Gedanken waren weg. Diese dunklen Gedanken, die der Großmeister in seinen Kopf gepflanzt hatte. Die seine Mutter ihm eingeflüstert hatte. Die ihn zu einem Monster gemacht hatten. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er zu seinem Vater aufgeschaut hatte, ohne Zweifel, ohne Zögern. Er war sein Held gewesen, sein Vorbild, sein größtes Idol. Die Zeiten waren lange vorbei, schon während der Schulzeit war dieses Bild immer mehr verblasst, doch er sehnte sich in jenem Moment nach nichts mehr, als wieder uneingeschränkt vertrauen zu können. Sich einfach fallen zu lassen, in dem Wissen, dass Lucius ihn auffangen und beschützen würde. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der es allein in der großen, weiten und grausamen Welt versucht hatte, und dabei krachend gescheitert war. Die Last der Schuld und die Sehnsucht nach einer einfacheren Zeit drückten ihn auf die Knie. Und anstatt seine morbiden, rachegeschwängerten Träume auszuleben, fing er an zu weinen wie ein Kind, das sich selbst verloren hatte.

Er wartete mit gesenktem Blick darauf, zurecht gewiesen zu werden. Gescholten für seine ungebührliche Schwäche. Getadelt für sein fehlendes Rückgrat. Doch stattdessen wurde er auf die Beine gezogen und fand sich in einer stummen Umarmung wieder. Draco wusste nicht, wann sein Vater ihn das letzte Mal umarmt hatte. Selten war das auch früher schon gewesen. Als Kind war es ihm wie eine Belohnung vorgekommen, die er sich erst einmal verdienen musste. Spätestens als er nach Hogwarts gekommen war, hatten derartige Gesten bald ganz aufgehört. Damals hatte sich die gesamte Stimmung in Malfoy Manor geändert, war von Jahr zu Jahr düsterer geworden. Rückblickend hing das sicher damit zusammen, dass der Dunkle Lord wieder an Kraft gewonnen hatte und für seine Diener spürbar geworden war. Wahrscheinlich war diese Umarmung deshalb so viel sagend. So viel sagend, dass es keiner weiteren Worte bedarf. Draco presste seine Arme, die eben noch schlaff an seiner Seite gebaumelt hatten, an den Rücken seines Vaters, und nahm so dessen Friedensangebot an. Er fühlte sich befreit, die Spannung und die Last des Grolls waren von ihm genommen und zurückblieb ein Gefühl der Geborgenheit, das er für immer verloren geglaubt hatte.

Wer weiß, wer von ihnen die ersten Anstalten gemacht hatte, die Umarmung zu lösen. Sie hatten sich beide mit ihrer ganzen Seele hineinfallen lassen und hatten beinahe Angst, wieder daraus aufzutauchen, hinein in die Wirklichkeit und vermutlich auch in die Betretenheit. Denn wie reagiert man auf eine derartige Offenbarung des Innersten? Als sie sich endlich wieder gegenüber standen, räusperte sich Draco und fragte einfach ohne Umschweife: „Was willst du hier?"

„Ich suche nach... Jemandem."

Lucius zögerte offensichtlich, den Namen auszusprechen. Vermutlich befürchtete er, er könnte dadurch den gerade geschlossenen Frieden wieder gefährden.

„Du meinst Hermine?", fragte er daher, um es ihm leichter zu machen.

„Ja."

„Ich habe schon versucht, ihre Spur aufzunehmen, aber es hat leider inzwischen geregnet und es ist alles nur noch verschwommen."

„Du hast nach Hermine gesucht?"

Die Überraschung in Lucius Stimme war nicht überhörbar und nicht weiter verwunderlich. Draco selbst wunderte sich ja auch darüber. Er zuckte daher mit den Schultern und sagte: „Es fühlt sich... richtig an. Ich meine, irgendwie schulde ich ihr das. Ich habe sie ja schließlich in den ganzen Schlamassel mit dem Großmeister reingezogen. Und es würde mich sehr wundern, wenn ihr Verschwinden jetzt nicht damit zusammenhängt, so kurz nachdem er ermordet wurde", er sah seinen Vater prüfend an und fragte gerade heraus: „Hast du es getan?"

Lucius schien nicht mit dieser Frage gerechnet zu haben.

„Glaubst du das denn?"

„Ich weiß nicht. Möglich wäre es."

„Das denkst du also von mir."

„Naja, er hat immerhin dafür gesorgt, dass Mutter verrückt geworden ist, dass ich ein Werwolf bin, dass du nicht mehr Herr deines Verstandes warst. Genügend Gründe für einen gepflegten Groll, oder nicht?"

„Dein Großmeister", er dehnte das letzte Wort verächtlich, „hat seine gerechte Strafe bekommen und hätte für viele weitere Jahre in Azkaban geschmort. Ich hätte mir niemals die Hände an einem Wurm wie ihm schmutzig gemacht."

„Warum suchst du eigentlich nach ihr?", kam Draco auf den Anfang des Gespräches zurück. Von Hermine hatte er gehört, dass der Zauber, durch den die beiden verbunden worden waren, seine Wirkung verloren hatte. Sie schien davon überzeugt gewesen zu sein, dass Lucius sie verachtete. Am Ende wollte er sie gar nicht finden, um sie zu retten. Draco ärgerte sich über das Misstrauen seinem Vater gegenüber, doch scheinbar saßen die alten Wunden zu tief, als dass man sie einfach mit einer Umarmung wieder spurlos heilen könnte. Es würde wohl noch dauern, bis er ihm wirklich ohne Vorbehalte vertraute.

„Sie ist meine Frau. Sie ist verschwunden. Natürlich suche ich nach ihr. Draco, wir verschwenden hier wertvolle Zeit. Entweder du hilfst mir oder du lässt es. Aber halte mich nicht weiter auf, das habe ich selbst schon genug getan."

„Schon gut, schon gut", wehrte er ab, „aber wie gesagt, ich fürchte, Spuren können wir hier nicht mehr finden."

„Ich habe gesehen, dass der Angriff von oben aus der Baumkrone heraus kam."

„Wie, du hast das gesehen?"

„Ich bin in ihren Geist eingedrungen."

„In ihren Geist", wiederholte er ungläubig.

„Ja. Und komm nicht auf die Idee, mir deswegen Vorhaltungen zu machen. Dazu hast du ja wohl kein Recht."

Draco hob nur missbilligend eine Augenbraue und sagte dann mit einem Kopfnicken in Richtung des dichten Blätterdaches: „Also gut, dann werde ich dort mal mein Glück versuchen. Du kannst ja inzwischen versuchen, dich noch an etwas mehr Details zu erinnern."

Er kletterte behände den Stamm hinauf bis zum ersten größeren Ast, der ihn ohne Weiteres trug. Er schloss die Augen und tauchte wieder in diese andere Welt ein, die Welt der Gerüche und Geräusche. Neue Geruchsfäden überdeckten inzwischen die älteren. Sein Vater war nun viel dominanter, auch das Streifenhörnchen, das hoch oben seinen Kobel hatte, überlagerte die feinen Spuren, die noch von Beedy und Ron und weit darunter auch von Hermine zu wittern waren. Aber ein Duft hing greifbar vor seiner Nase, klar und deutlich, hier oben, wo er nichts zu suchen hatte. Und auf einmal wurde ihm klar, was ihn die ganze Zeit gestört hatte.

Während er noch mit dieser Erkenntnis zu kämpfen hatte, hörte er von unten ein Keuchen und sah wie sein Vater mit einem wutverzerrten Gesicht disapparierte.

Lumine III - FeuerprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt