05. August 2008 - Malfoy Manor

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Draco betrachtete ein wenig ungläubig den leicht staubigen Nimbus 2001. Das war tatsächlich sein alter Besen. Er war erstaunt darüber, dass sein Vater ihn aufbewahrt hatte, doch er freute sich wie damals, als er ihn geschenkt bekommen hatte. Daneben standen noch zwei weitere Besen, ein Modell, das aussah, als gehöre es eigentlich in ein Museum, denn das Holz war schon ganz spröde und der Reisig bereits an vielen Stellen abgebrochen. Die Bezeichnung war nicht mehr lesbar, irgendetwas mit einem O vielleicht? Der dritte Besen glänzte und war offenbar nagelneu. Hatte sein Vater sich wirklich in dem Alter noch einen neuen Rennbesen zugelegt? Er lachte. Die Vorstellung war irgendwie komisch. Er hatte ihn noch nie auf einem Besen fliegen sehen und konnte es sich auch nicht wirklich vorstellen. SpeedAir hieß dieses Modell und es sah so aus, als könnte es seinem Namen gerecht werden. Einen Moment lang war er hin und hergerissen, dann schnappte er sich seinen alten Nimbus. Es war nichts Falsches daran, sich an bessere Zeiten erinnern zu wollen.

Er lief ein paar Meter, dann schwang er sich auf und stieß sich vom Boden ab. Die Luft rauschte in seinen Ohren und der Garten und das Cottage wurden immer kleiner unter ihm. Er drehte sich und konnte weit auf das Meer hinausblicken, das sich heute trügerisch ruhig und in der Sonne glitzernd präsentierte. Er lehnte sich jauchzend leicht nach vorne, um zu beschleunigen, und flog mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die Küste entlang, drehte hinaus aufs Meer, berührte mit den Füßen beinahe das kühle Nass, schraubte sich mit einem Mal wieder hoch hinauf in den Himmel und schrie seine Freude heraus. So frei und glücklich war er lange nicht gewesen. Und obwohl er in Azkaban viel Zeit für sich gehabt hatte, hatte er dort nicht eine Minute einfach mal an nichts denken können. Immer war er in düstere Gedanken oder Trauer vertieft gewesen, jetzt war sein Kopf dagegen leer und leicht, keine Sorgen, keine Ängste, keine Wut, nur das Meer, der Himmel, die raue Schönheit der Natur und er.

In der Nähe des Cottages, im Schatten eines großen, einzelnen Baumes, konnte er schemenhaft eine Gestalt erkennen. Sie war jedoch so weit weg, dass er für sie sicher nur ein Wolkenfetzen am Himmel war. Runde um Runde drehte er und als sein Kopf endlich ein wenig schwirrte, flog er zurück an die Küste und landete sanft ein paar Schritte vom Gartentor entfernt. Seine Knie zitterten ein wenig, als sie wieder festen Boden unter sich spürten, und sein Herz pochte wie wild vor reiner Freude. Er brachte den Nimbus 2001 zurück in den Schuppen und verschloss ihn.

Draco setzte sich auf eine hölzerne Bank im Garten und betrachtete die Gemüsebeete, die akkurat angelegt und sorgfältig gehegt worden waren. Warum sollte er eigentlich hier bleiben? Er und Hermine kamen offensichtlich nicht miteinander aus, nicht dass das eine Überraschung gewesen wäre, und in Malfoy Manor wartete viel Platz und viel Luxus auf ihn, der gerade ungenutzt blieb. Bis er einen Plan hatte, konnte er genauso gut dort leben, da hatte er wenigstens seine Ruhe. Er stand auf und strich seine ausgeleierte Hose glatt. Und dort hatte er noch jede Menge Kleidung, bestimmt war etwas dabei, das ihm nun wieder passte.

„Und wohin wollen Sie nun, Master Draco?", hörte er eine Piepsstimme. Als er sich umdrehte, sah er Beedy, die ihn mit ihren wässrigen Augen traurig anstarrte.

„Ich weiß es nicht", log er, „hier hält mich jedenfalls nichts und niemand", abfällig fügte er hinzu: „Und ich lasse mich sicher nicht weiter von einem Schlamm..."

„Master Draco! Meine Herrin hat es nicht verdient, so von Ihnen beschimpft zu werden! Schämen Sie sich!", empörte sich die Hauselfe.

Draco starrte das kleine Wesen überrascht an. Er war es nicht gewohnt, Widerworte zu bekommen, schon gar nicht von Beedy, die ihm ihr Leben lang treu ergeben und untertänig gewesen war.

„Wie bitte?", fragte er daher verblüfft.

„Sie haben mich schon verstanden", sagte die Hauselfe und verschränkte die Arme.

Er schnaubte und schüttelte ungläubig den Kopf. Dann disapparierte er nach Malfoy Manor. Im ersten Moment war er nicht sicher, ob er am richtigen Ort war. Das Haus war so verändert, er hätte es beinahe nicht wieder erkannt. Es war natürlich noch immer herrschaftlich und beeindruckend, aber irgendwie... offen und freundlich, nahezu einladend. Ganz anders als er es in Erinnerung hatte. Während er zur Haustür schritt, sah er sich eingehend um und musste zugeben, dass er an der Veränderung nichts auszusetzen hatte. Es war nicht kitschig oder übertrieben puristisch, nein, die Gärtner hatten ganze Arbeit geleistet und das Gelände in einen Park verwandelt, in dem man sich sicher gerne aufhielt.

Das Innere des Hauses war kaum verändert. Wie immer spürte er einen Knoten im Magen, als er einen Blick in den Speisesaal warf, in dem er viel zu häufig mit dem Dunklen Lord an einem Tisch gesessen hatte. Es war nicht mehr der gleiche Tisch und auch sonst erinnerte nicht mehr viel an diese Zeit, aber das Gefühl war dennoch geblieben. Draco ließ das Erdgeschoss hinter sich und betrat sein altes Zimmer. Es war sorgfältig aufgeräumt und sauber, aber trotzdem unberührt. Auf dem Nachttisch lag sogar noch das Buch, in dem er gelesen hatte, bevor er verhaftet worden war. Er blätterte ein wenig durch die bedruckten Seiten, doch an die Geschichte konnte er sich nicht mehr erinnern. Das alles kam ihm ohnehin vor, als wäre es aus einem anderen Leben. Er schlenderte die Galerie entlang und warf einen Blick in das Schlafzimmer, das einmal seiner Mutter gehört hatte und das ebenso perfekt wirkte, wie das seine. Auf einem Kleiderbügel hing ein pfirsichfarbenes Seidenkleid, das Narzissa früher gerne getragen hatte, als er noch ein Kind und das Leben sorglos gewesen war. Mit einem Kloß im Hals verschloss er die Tür wieder und trat einen Schritt davon zurück. Der Gedanke an die Vergangenheit tat ihm unendlich weh. Sie waren einmal eine Familie gewesen, ein Herz und eine Seele, ein Team. Und jetzt war seine Mutter tot und sein Vater in dem Gefängnis, aus dem er selbst gerade erst entlassen worden war.

„Du bist traurig, mein Junge", sagte eine sanfte und mitfühlende Stimme, als er gerade die Treppe nach unten steigen wollte, „was bedrückt dich?"

Er wusste nicht genau, wann das Porträt seiner Großmutter das letzte Mal ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, aber es musste schon mindestens 15 Jahre her sein. Seine Eltern hatten immer so gut es ging einen Bogen um das Bild gemacht und den Blick davon abgewandt. Draco erinnerte sich, dass er als Kind oft fasziniert stehen geblieben war und darauf gewartet hatte, dass die junge Frau sich kratzte oder hustete oder nieste oder wenigstens blinzelte. Ab und an hatte er Glück gehabt und sie hatte ein, zwei Worte mit ihm gewechselt. Richtige Gespräche waren die absolute Ausnahme gewesen und hatten schließlich ganz aufgehört. Er hatte seinen Vater einmal dabei beobachtet, wie er wütend vor dem Porträt stand und damit drohte, es von der Wand zu sprengen, wenn sie sich noch einmal einzumischen versuchte. Was auch immer er damit gemeint hatte. Valerica hatte sich wohl an die Anweisung gehalten, denn sie blieb. Vielleicht hatte es aber auch kein Zauber geschafft, sie von ihrem angestammten Platz zu lösen.
Draco saß auf der Terrasse und starrte in das Glas Feuerwhiskey in seiner Hand. Das goldbraune Getränk, in dem unscheinbare Flammen züngelten, schmeckte wie der Himmel auf Erden. Beedys Kochkünste in allen Ehren, aber gegen diesen flüssigen Schatz hatten sie keine Chance. Das konnte aber natürlich auch daran liegen, dass er seit fünf Jahren keinen Alkohol mehr getrunken hatte. Er war bei weitem nicht betrunken, doch er spürte, wie der Whiskey ihn sanft einhüllte und entspannte. Die Sonne würde jeden Moment hinter den hohen Baumwipfeln verschwinden und schickte ihre letzten Strahlen, um den Park noch ein wenig in verträumtes Licht zu tauchen. Das Plätschern des alten Springbrunnens wirkte ebenfalls beruhigend und die Müdigkeit schickte sich nun an, ihn zu übermannen. Seufzend stand er auf und ging hinauf in sein altes Zimmer. Heute Nacht würde er gut schlafen, da war er sich sicher. Das weiche Kissen und die schwere Decke fühlten sich himmlisch an. Sein Rücken musste sich erst wieder an eine Matratze gewöhnen, denn die letzten Jahre hatte er auf einer harten Steinpritsche geschlafen. Er leerte den Rest Feuerwhiskey in einem Zug und löschte das Licht.

Es dauerte zwar nur einen kurzen Augenblick bis er einschlummerte, erholsam war der Schlaf allerdings nicht. Er drehte sich unruhig von einer Seite auf die andere, schlug die Decke auf und schrak immer wieder hoch, weil ein Geräusch zu ihm durch drang. Einmal glaubte er, Wolfsheulen gehört zu haben, doch da er das regelmäßig im Ohr hatte, dachte er sich nichts weiter dabei. Als draußen eines der typischen Sommergewitter aufzog und die Fensterläden im Wind gegen die Scheiben klapperten, wachte er zum inzwischen bestimmt zehnten Mal in dieser Nacht schweißgebadet auf und japste nach Luft. Er mochte keine Gewitter, hatte schon als Kind Angst davor gehabt und sich jedes Mal verkrochen. Ein lautes Krachen ertönte von unten und instinktiv griff er nach seinem Zauberstab, der neben dem leeren Glas auf dem Nachttisch lag. Er hatte oft genug gehört, wie die Eingangstür schwer ins Schloss fiel, um das Geräusch sofort zu erkennen. Einen Moment lang wollte er seine Zimmertür verriegeln und die Decke über den Kopf ziehen, doch stattdessen stand er auf und schlich mit gespitzten Ohren aus seinem Zimmer und die dunkle Galerie entlang. Das Tosen des Sturms war so laut, dass seine Schritte nicht zu hören waren, aber andererseits konnte er so auch nicht lauschen, wer oder was noch hier war. Als er am Fuß der Treppe ankam, konnte er sehen, dass durch den Spalt unter der Küchentür Licht drang. Es war also tatsächlich jemand im Haus.

Er lockerte seine Schultern und die Nackenmuskulatur, dann brachte er sich in Position. Er zählte innerlich bis drei und riss die Tür auf, den Zauberstab jederzeit zum feuern bereit. Das Licht brannte, doch er konnte niemanden sehen. Vorsichtig lugte er um die Ecke und machte einen Satz in die Höhe, als er eine Stimme hörte: „Master Draco!"

Die Hauselfe kam hinter der Theke hervor. Ihre Ohren hingen herab und sie hielt eine dampfende Tasse in der Hand.

„Beedy! Was bei Merlins Barte treibst du hier?"

Sie deutete auf die Tasse und hielt sie Draco entgegen.

„Ich weiß, dass Sie Gewitter nicht gerne haben und wollte Ihnen etwas Gutes tun, wenn ich Sie schon wecke."

Er nahm das Getränk und musste lächeln. Sie hatte ihm tatsächlich wie früher einen Kakao gekocht. Und genau wie früher beruhigten ihn schon der schokoladige Duft und die Wärme.

„Bist du nur deshalb hier?"

Beedy schüttelte den Kopf und ließ ihn hängen.

„Ich brauche Ihre Hilfe, Sir. Meine Herrin ist verschwunden und ich weiß nicht, was ich tun soll, um sie zu finden."

„Verschwunden? Was meinst du damit?"

„Sie ist nicht nach Hause gekommen."

„Und? Sie ist alt genug, um über Nacht fort zu bleiben, oder?", schnaubte Draco.

„Das ist es nicht", die Hauselfe griff in die Tasche ihres Mantels, der zum Trocknen über einer Stuhllehne hing, „das hier habe ich gefunden."

Draco nahm den kleinen Beutel und betrachtete ihn eingehend. Er hatte ihn schon einmal gesehen und hatte damals wie heute darüber gestaunt, was alles darin verstaut war, denn er zog vier Bücher, ein Paar Wanderschuhe, Arzneimittel, eine Landkarte, drei verkorkte Flaschen Kürbissaft, eine Zahnbürste sowie eine Packung Pfefferminzzahnpasta, einen Kamm, Wundsalbe, ein Fernglas, ein Feindglas, ein Zelt und, nun verstand er Beedys Sorge, einen Zauberstab heraus. Fragend sah er die Hauselfe an, die traurig nickte: „Das ist der Zauberstab meiner Herrin."

„Wo hast du die Tasche gefunden?"

„Sie lag an ihrem Lieblingsplatz. Unter dem großen Baum auf dem Hügel. Natürlich hätte sie die Tasche dort vergessen können, aber ohne ihren Zauberstab..."

„Könnte sie nicht disapparieren. Ich verstehe."

„Bitte, Master Draco. Helfen Sie mir!"

Draco überlegte einen Moment. Es war tatsächlich merkwürdig, dass eine Hexe ihren Zauberstab zurückließ, doch er sah nicht, was ihn das anging. Die Hauselfe sah ihn jedoch mit so großen flehenden Augen an, dass er sich geschlagen gab.

„Na gut. Ich sehe, was ich tun kann."

„Danke", sagte Beedy und strahlte ihn an, „bitte, trinken Sie ihre Schokolade. Zur Stärkung."

Eine Viertelstunde später, es war gerade Schlag 23 Uhr, stand er in einen alten Regenmantel seines Vaters gehüllt in der geöffneten Eingangstür und starrte in die dunkle Nacht. Immerhin war das Gewitter inzwischen weitergezogen und hatte nur den Regen und den Wind zurückgelassen. Warum genau tat er das noch mal? Er könnte in seinem weichen, warmen, trockenen Bett liegen und von etwas Schönem träumen. Vielleicht von der hübschen Bedienung im Blinden Troll, die er vor Jahren einmal dort gesehen hatte? Ob sie noch dort arbeitete? Vermutlich nicht. Er fasste sich ein Herz und trat unter dem Vordach hervor. In Azkaban hatte er sich geschworen, denen zu helfen, denen er Schaden zugefügt hatte. Und um Hermine zu helfen, musste er jetzt über einen wahrlich gewaltigen Schatten springen. Schnellen Schrittes eilte er auf das Tor zu und als er die Schutzzauber hinter sich gelassen hatte, disapparierte er.


Lumine III - FeuerprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt