03. August 2008 - Cottage an der Küste

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Als sie nur Sekundenbruchteile später in ihrem Vorgarten wieder auftauchte, kamen ihr das fröhliche Zwitschern der Vögel und die Farbenpracht der Blumen und Sträucher beinahe vor wie ein Traum. Bereits in der kurzen Zeit, die sie auf dem Gefängnisfelsen verbracht hatte, hatte ihr Verstand begonnen, die Erinnerungen an das Schöne in der Welt zu verdrängen. Beedy kam mit einem furchtbar quietschbunten Täschchen in der Hand aus der Tür. Sie schien bereit für ihren freien Tag.

„Sie beide sind früh zurück, Ma'am."

„Ja. Beedy, hast du meinen Mann gesehen?"

„Er ist gleich nach oben gegangen."

Hermine hastete die Treppe nach oben und legte sich schon ein paar Worte zurecht, die sie ihm um die Ohren schleudern wollte. Doch als sie das Schlafzimmer betrat, blieb ihr die Schimpftirade im Hals stecken. Lucius saß auf dem Bett und weinte. Er weinte. In all den Jahren, die sie ihn kannte, hatte sie ihn nicht einmal so weinen sehen. Er war in sich zusammengesunken und schien sie gar nicht wahrzunehmen.

„Liebling?", fragte sie zaghaft, „Was ist passiert?"

Er sah auf und in seinen Augen lag eine tiefe Traurigkeit, die sie sofort zu ihm gehen und ihre Arme um ihn legen ließ. Die Begegnung mit Draco hatte offensichtlich eine schwere Wunde aufgerissen.

„Bitte sprich mit mir", flüsterte sie, doch er schüttelte nur vehement den Kopf.

Hermine fragte nicht weiter nach, er brauchte eben ein wenig Zeit bis er darüber reden konnte, was in Azkaban vorgefallen war. Lucius war ohnehin niemand der viel über seine Gefühle redete. Sie kannte ihn inzwischen natürlich gut genug, um zu merken, wenn etwas nicht mit ihm stimmte, und erriet meist, was ihn beschäftigte. In diesem Moment gab es aber freilich nicht viel zu interpretieren.
Es verging eine Weile, bis sich einer von ihnen rührte. Lucius griff nach Hermines Hand, die auf seiner Schulter lag und sagte mit belegter Stimme: „Danke."

„Wofür?"

„Dafür, dass du mich nicht verachtest."

„Warum sollte ich?"

Er schien mit sich zu ringen, dann antwortete er leise und ohne sie anzusehen: „Weil ich ein Schwächling bin, der weint wie ein Kind und von seiner Frau getröstet werden muss."

„Jetzt hör aber auf!", erwiderte sie streng, „In guten wie in schlechten Zeiten haben wir uns geschworen. Und natürlich bin ich an deiner Seite, wenn es dir nicht gut geht, wenn du eine Schulter brauchst, um dich anzulehnen, wenn du verletzlich bist, wie jeder Mensch auf der Welt es ab und an mal ist. Deswegen bist du doch kein Schwächling! Sollte ich dich verachten, weil du mir so vertraust, dass du mich in dieser Situation in deine Nähe lässt und mich nicht abweist?"

„Ich... denke nicht", er lächelte sie an, „du bist wirklich die klügste Hexe, die ich kenne. Und die herzlichste, die schönste, die gütigste, die..."

„Schon gut", lachte Hermine und gab ihm einen Kuss, „Ich springe nur schnell unter die Dusche, dann packen wir uns etwas zu essen ein und machen es uns auf dem Hügel gemütlich."

Von dem Hügel, auf dem ein großer, uralter Baum stand, hatte man einen wunderbaren Blick über den Küstenstreifen und meist wehte dort eine angenehme Brise. Es war ihr Lieblingsplatz, an dem sie schon viele gemeinsame Stunden fernab des Alltagstrubels verbracht hatten. Sie stand auf und ging ins angrenzende Badezimmer, wo sie sich in der Dusche die letzten Reste von Azkaban abwaschen wollte. Lucius folgte ihr und beugte sich über das Waschbecken, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Hermine legte ihre Kleider fein säuberlich zusammengelegt auf einen Hocker. Irgendetwas, sie konnte nicht sagen was, brachte sie dazu, noch einmal einen Blick über die Schulter zu werfen, bevor sie in die Dusche stieg. Im Spiegel sah sie, dass Lucius sie fixiert hatte, dann schlug er unvermittelt mit all seiner Kraft gegen die Scheibe, die in viele Einzelteile zersprang.

„Was ist denn in dich gefahren?", fragte Hermine schockiert und schrak zurück, als sie seine hasserfüllten Augen sah. Sie riss ihr Handtuch vom Haken, um sich so gut es ging zu bedecken.

„Ich bin endlich wieder zu Verstand gekommen. Was bei Merlins Bart hast du mit mir gemacht?", schnauzte er sie an.

Und auf einmal wusste Hermine, was passiert war. Sie fühlte es jetzt auch, nein, sie fühlte es gerade nicht mehr. Die Selbstverständlichkeit, die absolute Kompromisslosigkeit, mit der sie ihn geliebt hatte, war verschwunden.

„Ich? Ich habe überhaupt nichts gemacht! Ich bin hier genauso ein Opfer, wie du!", keifte sie zurück.

„Ach ja? Ich sehe nicht, welche Opfer du gebracht haben solltest. Du hast dir mit Hilfe deines hübschen kleinen Zaubers ein bequemes Leben gestohlen."

„Mein Zauber? Ich höre ja wohl nicht richtig!"

„Ehrlich gesagt, es ist mir gerade vollkommen egal, was du sagst und ob du damit etwas zu tun hast oder nicht. Du verschwindest von hier und bis du fort bist, gehe ich zurück in mein Haus, das ich niemals wegen eines dreckigen, wertlosen, verfluchten..."

Hermine packte ihren Zauberstab, der auf ihrer Bluse lag, und richtete ihn direkt auf Lucius Brust.

„Sag es ja nicht."

„Schlammblut!", schrie er.

„Stupor!"

Ihr Schockzauber traf die Fensterscheibe hinter ihm, die klirrend zerbarst. Er hatte sich unter ihrem Fluch weggeduckt und Hermine war froh darüber, denn sie hatte ihn nicht wirklich treffen wollen. Dass er sie auf diese Weise beleidigt hatte, hatte eine Kurzschlussreaktion in ihr hervorgerufen. Lucius richtete sich auf und sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber als er seinerseits mit gezücktem Zauberstab und einem Blick vor ihr stand, der keine Zweifel daran zuließ, dass er zu allem bereit war, bekam sie es deutlich mit der Angst zu tun.

„Es tut mir leid, das wollte ich nicht", sagte sie daher schnell.

„Es wird dir gleich noch mehr leidtun!", zischte er und erhob den Zauberstab, um ihn mit einer schnellen Bewegung in ihre Richtung peitschen zu lassen.

„Sectum Sempra!"

„Protego!"

Ihr Schutzzauber materialisierte sich gerade noch rechtzeitig, bevor sein Fluch sie treffen konnte. Sie ließ das Handtuch los und hielt ihren Zauberstab mit beiden Händen, um den Schutz aufrecht zu halten. Er feuerte ihr jede Menge vielfarbiger Lichtblitze entgegen und sah nicht so aus, als ob er bald damit aufhören würde. Hermine wich langsam und in der Hoffnung zurück, dass ihr Schutz seinem Angriff standhalten würde. Viel Platz hatte sie aber nicht mehr. Es verlangte ihr alles ab, die Zauber abwehren zu können. Die magische Barriere hatte bereits einige Besorgnis erregende Risse und auf einmal wurde ihr bewusst, wie mächtig er eigentlich war. Nicht umsonst war er lange Zeit im engsten Kreis um Voldemort gewesen.

„Glisseo!"

Sie brauchte einen Moment zu lange, um seinen Hintergedanken zu verstehen, und als sie einen weiteren Schritt nach hinten trat, rutschte sie auf den nun glatten, vereisten Fliesen weg und fiel hart hin. Mit einem unangenehmen Knacken brach ihr Arm unter ihrem Gewicht. Ihr Schutzzauber erstarb endgültig, als er von einem weiteren Fluch getroffen wurde, und so lag sie entblößt, schutzlos, gedemütigt und verletzt auf dem Boden und Lucius baute sich vor ihr auf, den Zauberstab direkt auf ihr Gesicht gerichtet. Seine Augen, die sonst hellgrau und so freundlich geleuchtet hatten, waren dunkel und kalt. In ihnen lag nichts mehr von der Liebe, die er noch vor wenigen Minuten für sie empfunden hatte. Er war wie ausgewechselt und auch sie selbst fühlte gerade nur Angst und Wut. Er starrte sie noch einen unerträglichen Moment lang an, dann ließ er den Zauberstab sinken und machte eine ruckartige Kopfbewegung in Richtung Tür.

„Verschwinde."

Dann rauschte er davon. Selbst als Lucius schon eine ganze Weile fort war, lag Hermine noch zitternd am Boden. Sie hatte sich innerlich schon darauf vorbereitet, jeden Moment Schmerzen zu empfinden, vielleicht sogar solche, wie sie nur der Cruciatus-Fluch auslöste. Es war zwar nicht dazu gekommen, doch allein die Tatsache, dass sie ihm das gerade ohne Weiteres zugetraut hätte, schockierte sie. Das alles fühlte sich an wie ein Film. Konnte es wirklich echt sein? Oder war es nur ein Albtraum? Würde sie gleich aufwachen, glücklich und zufrieden, so wie sie sich an jedem einzelnen Morgen gefühlt hatte, an dem sie neben ihm aufgewacht war?

Als sie ihren verletzten Arm belasten wollte, durchzuckte sie endlich der Schmerz, den sie schon erwartet hatte. Mit ihrem Zauberstab hatte sie den Bruch immerhin schnell wieder behoben. Es zahlte sich immer wieder aus, dass sie sich akribisch auf die Reise mit Harry und Ron vorbereitet und einige nützliche medizinische Zauber gelernt hatte. Kurz darauf stand sie unter der Dusche und ließ dampfend heißes Wasser über sich laufen. Urplötzlich hatte sie das Bedürfnis, seinen Geruch, der noch überall an ihr haftete, von sich zu waschen. Ihr Körper war schon ganz gerötet, doch sie machte unermüdlich weiter. Erst nach einer ganzen Weile platzte ein in Verzweiflung getränkter Schrei aus ihr heraus, der sie auf die Knie sinken ließ. Das Wasser rann ihr über Kopf und Schultern und spülte ihre salzigen Tränen mit sich fort. Sie fühlte sich beschmutzt und verraten, getäuscht und allein.
Wohin sollte sie jetzt gehen? Was würden ihre Freunde sagen? Wie sollten sie nebeneinander in Hogwarts unterrichten und sich begegnen? Würde Lucius überhaupt noch dort bleiben oder diesen Teil seines Lebens hinter sich lassen? Die Vorstellung, dass alles, was sie in den letzten Jahren zusammen erlebt hatten, eine Lüge war, tat ihr so weh, es zerriss sie beinahe. Das, was sie am meisten verzweifeln ließ, waren das Gefühl, nicht die Kontrolle über ihr Leben gehabt zu haben, die Erkenntnis, dass sie Erinnerungen und zwar wirklich wunderschöne Erinnerungen an jemanden hatte, den sie eigentlich hassen wollte, und die Wut, dass sie jetzt mit den bitteren Konsequenzen leben musste. Gerade hatten sie sich noch geliebt und jetzt? Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Sie wollte ihn verabscheuen, aber das gelang ihr genauso wenig, wie ihn gern zu haben. Sie wollte ihn nie wieder sehen und doch sehnte sie sich danach, wieder Frieden in seinen Armen zu finden. Sie wollte kämpfen, doch sie wusste nicht, wofür. Und sie wollte das alles nicht hören. Nicht denken. Nicht fühlen.

Warum konnte nicht einmal in ihrem Leben etwas normal verlaufen? Andere lernten sich kennen, verliebten sich oder eben nicht, heirateten oder nicht, bekamen Kinder oder auch nicht und lebten einfach gemeinsam ihr langweiliges, alltägliches Leben. Wie sehr sie sich manchmal danach sehnte, konnte sie gar nicht in Worte fassen. Gedankenverloren drehte sie den Ehering an ihrem Finger. Hätte das alles nicht vor ihrer Hochzeit passieren können? Sie hatten sich gegenseitig versprochen, den Rest ihres Lebens füreinander da zu sein, sich zu lieben, zu respektieren, zueinander zu halten, gemeinsam durch Dick und Dünn zu gehen. Das magische Band, das so zwischen ihnen entstanden war, konnte natürlich jederzeit mit wenig Aufwand wieder getrennt werden, doch wenn sie ehrlich war, hatte sie das gar nicht vor. Zumindest noch nicht. Nicht, solange sie nicht wusste, was eigentlich vor sich ging und ob es noch Hoffnung für sie gab. Sie wollte einfach nicht glauben, dass die Liebe, die sie in den letzten Jahren gefühlt hatten, nur aufgrund der kranken Fantasien und des Vorhabens eines Werwolfs bestehen konnte, und jetzt auf einmal verschwunden war. Irgendetwas, das das Feuer damals entfacht hatte, musste doch in ihnen geschlummert haben. Und wenn es ein noch so kleiner Funke gewesen war. Früher oder später würden sie miteinander sprechen müssen, doch vorerst war es vermutlich das Beste, wenn sie den Kopf unten hielt und sich zurückzog. Sie saß frisch angezogen auf dem großen Bett, das noch von der Nacht zerwühlt war - eine Spur von Normalität an diesem verrückten Morgen. Ein kleiner Koffer lag neben ihr. Sie seufzte und raffte sich auf, denn sie wollte nicht mehr hier sein, wenn Lucius zurückkam. Sie musste erst ihre Gedanken ordnen, bevor sie dazu bereit war, ihm in die Augen zu sehen. Und er würde es vermutlich nicht gut aufnehmen, wenn sie noch nicht verschwunden war. Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Sachen gepackt hatte und den Blick ein letztes Mal durch den Raum schweifen ließ. Auf der Anrichte stand eine gerahmte Fotografie, die gerade ein paar Wochen alt war. Heute Morgen hatte sie von dort noch das frisch vermählte Paar angelächelt, jetzt standen die Brautleute so weit voneinander entfernt, wie der Rahmen es ihnen ermöglichte. Beide hatten die Arme verschränkt und finstere Mienen aufgesetzt. Es war schon verwunderlich, dass die Fotografierten so sehr und so schnell auf die Gemütslage ihrer Vorbilder reagierten. Einer Eingebung folgend legte sie das Bild oben auf einen Stapel Kleider in ihrem Koffer und klappte diesen zu.

Sie musste nur noch ihre Bücher und Unterlagen von unten in ihre Tasche packen, dann konnte sie los. Aber wohin sollte sie? Zu ihren Eltern? Nein, auf dieses Gespräch hatte sie gerade absolut keine Lust. Zu Harry und Ginny? Die beiden würden sie sicherlich aufnehmen, aber erstens würde sie auch dort unangenehme Fragen beantworten müssen und zweitens hatten sie mit ihren beiden kleinen Jungs schon alle Hände voll zu tun und konnten nicht noch einen Gast mit einem psychischen Knacks gebrauchen. Zu Ron? Eine leise Stimme in ihrem Kopf flüsterte ihr zu, dass das Lucius wohl am meisten stören würde, aber diese Stimme wurde von allen anderen lautstark übertönt. Nein, das war auch keine Alternative. Im Tropfenden Kessel könnte sie sich natürlich einquartieren, aber da lauerten Neville und Hannah. Der Blinde Troll war dagegen eine passable Alternative, denn Buck stellte nie zu viele Fragen.

Während sie noch überlegte, ging sie nach unten und verstaute die wichtigsten Habseligkeiten in ihrer Tasche. Als sie nach draußen in den Garten trat, flatterte ihr Alva entgegen und schnäbelte aufgeregt. Es schien ganz so, als wollte das Elfenkäuzchen Hermine daran erinnern, dass sie sie nicht vergessen sollte. Mit der Eule auf der Schulter holte sie einen Käfig aus dem Schuppen, in dem noch ein weiterer Vogel lebte, doch Aris, die große schwarzweiß gefleckte Sperbereule, war scheinbar gerade ausgeflogen. Mit dem Eulenkäfig in der Hand, in dem Alva es sich gemütlich gemacht hatte, atmete Hermine einmal tief durch und disapparierte. Es fiel ihr schwer, diesen Ort einfach hinter sich zu lassen und sich der Welt zu stellen. Sie kam sich einsam vor. Verletzlich und verloren.

Lumine III - FeuerprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt