06. August 2008 - Der Blinde Troll

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Es war Mittwochabend und er saß mit einem großen Humpen Buckbier an der Theke des Blinden Trolls. Der Pub war brechend voll und er hatte gerade noch den letzten Platz am Rand ergattert. Die Kapuze seines Umhangs hatte er so weit ins Gesicht gezogen, wie es ging, aber bei dem Gedränge würde ihn sicher ohnehin niemand beachten. Im Troll stellte man weder zu viele Fragen noch sah man sich die anderen Gäste genauer an. Der kleine Wirt dagegen hatte Draco natürlich sofort erkannt und ihm mit einem Grinsen sein Spezialgetränk serviert.

„Das geht aufs Haus. Willkommen zurück im Leben", hatte Buck gesagt und war dann davongeeilt, um eine Gruppe junger Hexen, die offensichtlich noch nicht volljährig waren, wieder zu verscheuchen. Der Kobold wusste immer genau, wer seine Gäste waren, aber man konnte normalerweise darauf vertrauen, dass dieses Wissen bei ihm blieb.

Draco hatte sich bereits verstohlen umgeblickt, doch die vollbusige Kellnerin, die er zu sehen gehofft hatte, war bisher nicht aufgetaucht. Er hatte eigentlich nichts anderes erwartet, denn es war ja immerhin schon ein paar Jahre her, dass er das letzte Mal hier gewesen ist, und vermutlich war sie inzwischen im Leben vorangekommen. Wie alle anderen, die er kannte. Zu seinen alten Schulkameraden hatte er schon seit dem Exil keinen Kontakt mehr und wenn er ehrlich war, hatten sie sich schon zuvor voneinander entfernt. Echte Freunde waren sie ohnehin nicht gewesen. So etwas gab es in seinem Leben nicht.

Das Buckbier war ziemlich stark. Niemand wusste genau, was der Wirt alles in das Getränk mischte, aber es schmeckte und versetzte Draco in einen leicht dämmrigen Zustand, in dem er die Gedanken, die ihn seit dem Morgen quälten, nicht mehr zu denken brauchte. Er trank den Rest in einem Zug leer und bedeutete der Bedienung, dass sie ihm noch eines einschenken sollte. Die junge Frau füllte einen Humpen und reichte ihn ihm über den Tresen. Erst jetzt nahm er ihr Gesicht wahr. Im ersten Moment wollte er sie begrüßen und sich zu erkennen geben, doch dann wand er rasch den Blick ab und ließ es bleiben. Susan Bones hatte mit Sicherheit keine große Lust, sich mit ihm zu unterhalten und an die Zeit im Rudel erinnert zu werden. Sie war nur zu drei Jahren verurteilt worden und hatte sich seitdem offenbar ganz gut erholt, soweit er das in dem schummrigen Licht der Kneipe erkennen konnte. Ein Job im Troll war natürlich nicht gerade das, wovon eine junge Hexe nachts träumte, doch es war besser als nichts und besser als viele andere Werwölfe lebten. Er war neugierig, was sie seit ihrer Entlassung getrieben hatte, wo sie untergekommen war, ob sie neue Freunde gefunden und noch Kontakt zu ihren alten hatte. Was sie wohl gefühlt hatte, nachdem der Zauber aufgehoben worden war? War sie überhaupt davon betroffen gewesen? Bestimmt, denn sonst wäre sie nicht freiwillig ein Teil des Rudels geblieben, da war er sich relativ sicher, auch wenn er sie zugegebenermaßen nicht wirklich kannte.

Er nahm einen Schluck von seinem frischen Bier und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen. Sofort spürte er die Wirkung des Alkohols und der anderen Zutaten und dachte nicht weiter an Susan. Hinter ihm ging in diesem Moment ein Tumult los und er drehte sich neugierig zu den lauten Stimmen um. Drei Männer saßen an einem der runden Tische und einer davon war schimpfend aufgestanden und fuchtelte mit seinem Zauberstab herum. Einer der anderen beiden nahm ihn am Arm und bellte, er solle sich wieder setzen und nicht so empfindlich sein. Die drei kamen Draco vage bekannt vor, aber er konnte sie nicht einordnen. Er drehte sich wieder zu seinem Bier um. Wirkliche Gefahr schien nicht von den Männern auszugehen und ihr Streit interessierte ihn nicht.

Etwa eine halbe Stunde später gesellte sich Buck für einen kurzen Plausch zu ihm. Der Kobold stieß mit einem Glas an, das für Draco gerade einmal die Größe eines Schnapsglases hatte, und sah ihn eindringlich an.

„Seit wann bist du wieder draußen?"

„Gestern", brummte er. Er wollte nicht, dass irgendjemand ihr Gespräch mitbekam, aber die Sorge war unbegründet, denn im Pub herrschte so viel Betrieb, dass niemand ihnen Aufmerksamkeit schenkte.

„Und kommst du klar?"

Draco zuckte mit den Schultern: „Muss ja."

„Du siehst nicht so aus, als würdest du die Freiheit genießen."

„Hab nicht viel zu tun."

„Dann such dir eine Arbeit. Susie geht es viel besser, seit sie nicht mehr den ganzen Tag sinnlos rumhängt. Ging ihr wie dir, da hab ich sie irgendwann auf die andere Seite der Bar geholt."

„Schon gesehen. Freut mich, dass es ihr gut geht."

„Ihr solltet euch vielleicht mal unterhalten."

„Ne, lass mal Buck, ich glaube nicht, dass sie das will."

„Wie du meinst. Hast du sonst jemanden, mit dem du reden kannst?"

Draco hatte vor seiner Verhaftung beinahe jeden Abend im Blinden Troll verbracht und immer allein in einer Ecke gesessen, bis Buck sich seiner ein wenig angenommen hatte. Daher wusste der Kobold natürlich, dass sein ehemaliger Stammgast nicht besonders viele soziale Kontakte hatte. Er brummte nur etwas unbestimmtes als Antwort auf Bucks Frage.

„Hör mal, Junge. Du bist in ner beschissenen Situation, das steht fest. Dein Vater, die Hochzeit und alles, ist sicher nicht leicht für dich. Aber ich weiß, dass die beiden dir Hilfe nicht abschlagen, wenn du darum bittest. Verkriech dich nicht."

Draco starrte den Kobold an: „Hochzeit? Du weißt, dass..."

„Klar, ich war sogar eingeladen. Tolle Feier."

„Super", schnaubte er. Dachte denn außer ihm niemand, dass diese Beziehung abartig war?

„Ich will sagen, du musst nicht allein sein, wenn du nicht willst. Aber du wirst dich selbst darum bemühen müssen."

Draco schüttelte den Kopf und sagte: „Das ist nicht so einfach."

„Du musst einfach über deinen Schatten springen", Buck sah auf die Uhr an der Wand, „eigentlich müsste Hermine jeden Moment da sein, dann kannst du gleich damit anfangen."

„Du verstehst das nicht, Buck. Sie ist verschwunden. Einen Tag, nachdem sie meinen Vater nach Azkaban gebracht haben."

Der Kobold, der nebenbei mit einem Tuch einen Fleck von der Holztheke gewischt hatte, hielt inne und sah auf.

„Was?"

Draco erzählte ihm knapp, was geschehen war. Es konnte nicht schaden, wenn der Wirt darüber Bescheid wusste, dann konnte er seine großen Ohren noch etwas mehr spitzen und für Hinweise offen halten.

„Deshalb hat sie nach den dreien gefragt. Jetzt versteh ich es erst."

„Nach wem hat sie gefragt?"

Buck kratzte sich nachdenklich an der Schläfe, dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Lass lieber die Finger davon, Junge. Du willst nicht gleich wieder in irgendwelche krummen Dinger verwickelt werden. Trink dein Bier, ich lad dich ein. Aber versuch nicht, auf eigene Faust zu ermitteln. Das klingt alles mächtig seltsam."

„Aber..."

Bevor Draco richtig protestieren konnte, war der Kobold schon davon gewuselt. Er hatte auf einmal gar keine Lust mehr, noch ein Bier zu trinken, sondern wollte wissen, nach wem sich Hermine erkundigt hatte, bei Merlins Barte noch mal. Er war kurz davor, aufzuspringen und lauthals nach Antworten zu verlangen, aber das war keine gute Idee. Er wollte und durfte nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenken. Seufzend stand er auf und ließ seinen halb vollen Humpen zurück. Der Blinde Troll war immer noch brechend voll und er musste sich durch eine ganze Menge gut gelaunter Zauberer und Hexen drängen. Draußen angekommen lehnte er sich gegen die steinerne Wand und atmete durch. Die Gebäude in der Winkelgasse waren so hoch und die Wege zwischen ihnen so schmal, dass es auch im Sommer angenehm schattig und kühl war.

„Na?"

Er reagierte nicht, denn er war sicher nicht gemeint. Ein wenig schwerfällig stieß er sich von der Mauer ab und wollte davongehen, doch das Buckbier hatte ihm mehr zugesetzt, als er dort drinnen bemerkt hatte. Beim ersten Schritt schwankte er bereits gewaltig und wäre sogar hingefallen, wenn ihn nicht jemand abgefangen hätte.

„Woah, vorsichtig! Alles gut bei dir?"

Jetzt erst sah er, dass es Susan war, die ihm half. Aus der Nähe konnte er nun doch deutliche Spuren der Vergangenheit an ihr erkennen. Die dunklen Schatten unter den Augen waren längst nicht so ausgeprägt wie bei ihm, aber nichtsdestotrotz gut erkennbar. Eine unschöne Narbe zog sich quer über das Gesicht, von der linken Schläfe über eines ihrer hellblauen Augen gerade so an der Nase vorbei bis zur Oberlippe, die von einer dezenten Hasenscharte geziert wurde. Sie trug ihre erdbeerblonden Haare wie eh und je in einem langen, geflochtenen Zopf und war ziemlich ausgemergelt, so wie er selbst. Das änderte nichts an ihrer unnatürlichen Stärke, die es ihr mühelos ermöglichte, ihn aufrecht zu halten. Er wusste nicht recht, was er zu ihr sagen sollte. Auf eine Weise fühlte er sich ihr gegenüber schuldig, war es doch seine Familie, die maßgeblich an ihrem Schicksal beteiligt gewesen war, andererseits hatte nicht er sie zum Werwolf gemacht und litt selbst genauso wie sie.

Es war schließlich Susan, die das Wort ergriff: „Wenn du willst, helfe ich dir dabei, draußen klar zu kommen. Es ist nicht einfach, war es schon bei mir nicht, obwohl die Leute mich kaum kennen und nicht wissen, was ich bin. Aber besser als gar nichts, oder?"

„Krieg das schon allein hin", brummte er. Sein Kopf begann langsam mächtig sich zu drehen.

„Wenn du meinst", sagte sie und ließ ihn los. Sofort begann er wieder bedrohlich zu schwanken und hielt sich reflexartig an ihrem Arm fest, „Du hättest als Einstieg vielleicht nicht gleich mit dem Stärksten anfangen sollen. Komm, ich bring dich nach Hause. Wo bist du abgestiegen?"

Draco wollte protestieren, aber es war in seinem Zustand vermutlich keine gute Idee, zu zaubern.

„Ich habe das Apparieren inzwischen ein bisschen besser drauf, als in der Schule", lachte sie und er erinnerte sich daran, dass sie damals bei ihren anfänglichen Versuchen zersplintert war. Als die ersten Passanten auf sie aufmerksam wurden, nannte er ihr widerwillig das Cottage an der Küste und mit einem leisen Plopp verschwanden sie aus der Nocturngasse.

„Wird Buck nich sauer, wenn du einfach abhaust?"

„Keine Sorge, er versteht das. Außerdem war meine Schicht sowieso fast vorbei. Wo sind wir hier?", fragte sie und betrachtete den gepflegten Garten und das freundlich gestrichene Haus. Es war offensichtlich nicht das, was sie erwartet hatte.

„'n Haus von meinen Eltern", nuschelte er, überlegte kurz und prustete dann, „Nee, stimmt gar nich", etwas schwerfällig tippte er sich gegen die Schläfe und sagte: „Is ja gar nich meine Mutter. Is sie nich."

Beedy kam mit sorgenvoller Miene aus dem Cottage und begann aufgeregt etwas zu quasseln, doch Draco hörte davon gar nichts. Er war inzwischen so eingelullt, dass er von seiner Umgebung kaum etwas mitbekam.


Lumine III - FeuerprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt