06. August 2008 - Azkaban

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Er machte keinen Hehl daraus, dass er sie anstarrte. Sie sollte ruhig wissen, dass er sah, mit wem sie sich neuerdings abgab. Bobby Shunpike? Dieser Hänfling? Dieser Wicht? Es widerte ihn an. Und es brachte ihn schier um den Verstand, dass er nicht an seiner Stelle war.

„Lucius? Hörst du mir überhaupt zu?"

„Hm?"

Er wand sich zu Narzissa um, die neben ihm saß und beleidigt die Arme verschränkt hatte.

„Ich habe dich gefragt, ob ich mir nachher das Quidditch-Training ansehen kann?"

„Mir egal, ist ja nicht so, als ob es geheim wäre", sagte er und erntete einen Lacher von Evan, der ebenfalls Jäger in der Mannschaft von Slytherin war.

Narzissa nahm die Bemerkung dagegen gar nicht gut auf und verließ die Große Halle mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck. Am Tisch der Hufflepuffs begann Joan derweil doch tatsächlich damit, für seinen Geschmack viel zu vertraut mit diesem elenden Pickelgesicht zu tuscheln und zu kichern. Er ballte die Fäuste und sprang auf.

„Was'n los?"

Lucius antwortete nicht, sondern stürmte hinaus auf das Schlossgelände. Als er bei der Hütte angelangt war, in der dieser große Sonderling Rubeus Hagrid wohnte, zückte er seinen Zauberstab und jagte nach und nach die Kürbisse in die Luft, die dort in einem großen Beet feinsäuberlich gepflanzt worden waren.

Es war sein sechstes Schuljahr und er hatte sich seit dem Ende der Weihnachtsferien vor bald zwei Jahren strikt an die Anweisung seines Vaters gehalten und nicht mehr mit Joan gesprochen. Davon, dass er sie nicht mehr ansehen und neuerdings auch von ihr träumen durfte, hatte Abraxas jedoch nichts gesagt. Es machte Lucius verrückt, dass er sie so glücklich sah. Sie schien ja offensichtlich kein Problem damit zu haben, dass er kein Teil ihres Lebens mehr war. Er dagegen kämpfte jeden Tag und jede Nacht aufs Neue damit und wollte sie endlich aus seinen Gedanken vertreiben, doch das wollte ihm einfach nicht gelingen. Nicht einen. Verdammten. Tag. Er sprengte die letzten drei Kürbisse und betrachtete das Schlachtfeld. Besser fühlte er sich jetzt auch nicht. Im Gegenteil. Er ärgerte sich darüber, dass er sich so hatte gehen lassen.

„Sag mal, was ist eigentlich los mit dir?"

Er wirbelte herum und da stand Joan, die Hände in die Hüfte gestemmt und so umwerfend schön, wie sie ihm immer in seinen Träumen erschien.

„Nichts. Und jetzt hau ab und lass mich in Ruhe!"

„Das ist doch lächerlich, Lus."

„Nenn mich nicht so!", fuhr er sie an und wollte an ihr vorbei stürmen, doch sie hielt ihn fest.

„Du bist eifersüchtig."

„Auf Pickeldi? Wohl kaum", knurrte Lucius.

„Glaubst du, ich bin dumm und blind? Ich sehe doch, dass du mich ständig beobachtest."

„Pff. Träum weiter."

„Wenn du dich nicht wie ein Idiot verhalten würdest, dann hättest du überhaupt keinen Grund eifersüchtig zu sein. Denk da mal drüber nach."

„Was meinst du damit?"

„Du hast mich schon verstanden. Und jetzt husch ab ins Schloss, damit nicht noch einer deiner Reinblüter-Freunde sieht, dass du dich mit mir unterhältst", sagte Joan mit einem Augenrollen und stapfte davon.

Lucius blieb ungläubig stehen und sah ihr nach. Hatte sie damit gemeint, dass... Nein... Und selbst wenn. Es hatte ja keinen Sinn... Oder? Er rang kurz mit sich, dann rannte er ihr hinterher.

„Jo! Warte!"

Sie blieb nicht stehen, sondern beschleunigte ihre Schritte sogar noch. Als er sie eingeholt und sich ihr in den Weg gestellt hatte, fragte er selbst am meisten über seinen Mut verwundert: „Du bist verrückt, Jo, das weißt du aber?"

Joan lächelte in Erinnerung an ihre eigenen Worte und wie damals in ihrem zweiten Schuljahr wussten sie beide, dass er Recht hatte. Sie war verrückt. Mindestens genauso verrückt nach ihm, wie er nach ihr. Er spürte sein Herz im ganzen Körper wie wild pochen. Der Moment, den er sich so oft in allen möglichen Facetten ausgemalt und erträumt hatte, war nun gekommen. Eine halbe Ewigkeit versank er in ihren haselnussbraunen Augen, bis Jo sich einen Ruck gab und sich ihre Lippen endlich berührten. Sie fühlten sich noch viel sanfter an, als er es sich vorgestellt hatte, und ließen seine Knie weich werden. Es wunderte ihn, dass er nicht einfach zusammensackte, doch irgendwie schaffte er es, aufrecht stehen zu bleiben. Ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung, ja, der Erlösung machte sich in ihm breit. Die vielen langen Monate der Ungewissheit, der Leugnung, der Eifersucht waren nun endlich vorbei. Sie hatten keine Zukunft. Aber sie hatten den Augenblick.

Es klapperte laut und ein weiteres Mal schob einer der Wärter ein Tablett mit widerlichem Gefängnis-Fraß zu ihm in die Zelle.

„Frühstück und Besuch. In fünf Minuten."

Besuch? Was wollte Hermine denn jetzt schon wieder von ihm? Hatte er nicht deutlich genug gemacht, dass sie nicht wieder herkommen sollte? Er wollte sie weder sehen noch sprechen, aber immerhin kam er dadurch eine Weile aus dieser Zelle heraus. Hastig schlang er das karge Essen herunter und wartete dann, in Gedanken noch bei seinem Traum. Das letzte Mal hatte er so intensiv an Joan denken müssen, als Witherfork und Narzissa seine alte Schwäche und seine Schuldgefühle für ihre Zwecke ausgenutzt hatten. Ein Schlüssel rasselte und seine Zelle wurde geöffnet.

„Mitkommen!"

Lucius hatte gehofft, dass Potter schlau genug sein und keine weiteren Besucher zulassen würde. Offenbar hatte Hermine es aber geschafft, innerhalb kürzester Zeit ein weiteres Mal zu ihm gelassen zu werden. Sie war entschlossen und überzeugend, wenn sie etwas wollte, das wusste er natürlich, er hatte oft genug selbst ein Lied davon singen können. Nun ja, er musste ihr eben unmissverständlich klar machen, dass sie hier bei ihm nichts verloren hatte.

Als er den kleinen Besucherraum betrat, saß dort jedoch zu seiner Überraschung keineswegs seine Frau, sondern seine Trauzeugin. Ginny. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen und blieb verwirrt stehen. Der Wärter drückte ihn unsanft auf den freien Platz und sofort spürte er, wie die magischen Fesseln festgezurrt wurden. Lucius lächelte grimmig in sich hinein. Bestimmt hatte Potter angeordnet, dass man ihn während dieses Besuches besonders zu sichern hatte. Als ob er gerade in der Lage wäre, irgendjemandem Schaden zuzufügen. Außerdem war Ginevra wohl die Letzte, die etwas von ihm zu fürchten hatte.

„Was willst du?", fragte er betont unfreundlich und überlegte, wie viel sie eigentlich wusste.

Ginny hob eine Augenbraue und erwiderte: „Begrüßt man so eine Freundin? Ich hätte gedacht, du freust dich über ein wenig Gesellschaft."

„Auf deine Gesellschaft kann ich verzichten", brummte er.

„Gut, wenn du dich wie ein bockiges Kind verhalten willst, komme ich gleich zum unangenehmen Teil meines Besuchs. Hermine ist verschwunden."

„So?", fragte er mit unbeteiligter Miene. Innerlich sah es anders aus. Er ärgerte sich über Potter, da der offensichtlich nicht auf ihn gehört hatte. Aber er hatte natürlich wieder besser gewusst, was zu tun war. Das hatte er nun davon.

„Sie ist gestern von zu Hause fortgegangen und nicht wiedergekommen. Beedy hat Stunden später nur ihre Tasche und ihren Zauberstab gefunden."

„Ich weiß nicht, warum mich das interessieren sollte", stellte er trocken fest, „dann ist sie eben davongelaufen, ohne Magie zu nutzen, wie ein einfacher Muggel."

Noch bevor er richtig wusste, was passierte, spürte er einen brennenden Schmerz im Gesicht. Ginny war für ihren Zustand überraschend schnell aufgesprungen und hatte ihm eine schallende Ohrfeige verpasst.

„Ich glaube, ich spinne! Das ist deine Frau, von der wir hier sprechen. Reiß dich gefälligst zusammen!"

Er wollte ebenfalls hochfahren, doch die Fesseln hinderten ihn schmerzhaft daran, weswegen er nur lauthals fluchte: „Bist du von allen guten Geistern verlassen, Ginevra? Wag es ja nicht noch einmal!"

„Ich bin nicht diejenige, die du das fragen solltest, oder? Du führst dich hier auf, als hättest du auf einmal alles vergessen, was zwischen euch war. Ich dachte wirklich, du hast dich verändert. Dass du endlich über deinen übergroßen Schatten gesprungen bist. Mum hat mir in den letzten Jahren oft erzählt, dass du wieder bist, wie du einmal warst. Wem willst du etwas beweisen? Warum kannst du nicht einfach zugeben, dass du glücklich warst. Du bist doch in Wirklichkeit gar nicht so, wie du dich jetzt gibst", Ginny setzte sich ein wenig schwerfällig wieder auf den metallenen Stuhl und sagte etwas ruhiger, „Ich bin mir sicher, dass es dich nicht kalt lässt, dass Hermine vermisst wird, während du hier festgehalten wirst. Das kann doch kein Zufall sein! Jemand hat es auf euch abgesehen."

Sie redete sich in Rage und begann wild mit den Händen zu fuchteln. Lucius hörte ihr gar nicht richtig zu. Sie erinnerte ihn einmal mehr an Joan. Sie war genauso entschlossen, genauso mutig, loyal und klug, genauso unnachgiebig und unbeirrbar. Er konnte nichts dagegen tun, er musste lächeln, auch wenn er krampfhaft überlegte, wie er am schnellsten dafür sorgen könnte, dass sie aufhörte zu reden und dann wieder verschwand. Dabei wollte er eigentlich gar nicht, dass sie ging. In den letzten Jahren war er mit keinem von Hermines Freunden wirklich warm geworden. Er warf es ihnen nicht vor, er hatte schließlich auch kein großes Bedürfnis danach gehabt, mit diesen jungen Leuten, die seine Kinder sein konnten, Freundschaft zu schließen. Ginny, die von allen wirklich am meisten das Recht gehabt hätte, ihm die kalte Schulter zu zeigen, hatte eben das nicht getan. Nein, ihre wunderbar ungezwungene Art und ihr freundliches, einnehmendes Wesen hatten dafür gesorgt, dass Lucius sich ehrlich willkommen gefühlt hatte und nicht nur geduldet. Zwischen ihnen war eine besondere Freundschaft entstanden, nicht zuletzt deswegen hatte er Ginny gebeten, seine Trauzeugin zu sein. Niemandem sonst hätte er erlaubt, so mit ihm zu sprechen, wie sie es gerade getan hatte. Und anders als die Zuneigung zu Hermine, war ihre Freundschaft nicht aus diesem verflixten Zauber entstanden, sondern hatte sich aus den daraus folgenden Umständen ergeben. Und sie war unerschüttert, soweit es ihn betraf. Er mochte den Gedanken nicht, dass Ginny schlecht von ihm dachte. Er wollte sie nicht belügen, aber er konnte ihr nichts sagen. Konnte sie nicht mit seinem Wissen belasten und sie damit in Gefahr bringen. Es war immerhin ein Mörder auf freiem Fuß.

„Also wirst du mir helfen?", fragte sie da gerade und schnipste vor seinem Gesicht, als er nicht reagierte.

Lucius lehnte sich so gut es ging zurück und ignorierte, was sie gefragt hatte. Am einfachsten wäre es gewesen, wenn er sich ein Beispiel am Verhalten seines Sohnes genommen und ihr einfach ins Gesicht gespuckt hätte. Dann wäre das Problem sicher schnell gelöst gewesen, aber das hatte sie nicht verdient. Stattdessen sagte er einer Eingebung folgend: „Ich habe dir nie erzählt, warum ich dir das Tagebuch des Dunklen Lords gegeben habe."

„Wow", sagte Ginny und schüttelte resigniert den Kopf, „du hast mir überhaupt nicht zugehört."

„Sei ruhig und lass es mich erzählen."

„Bitte, tu was du nicht lassen kannst", murmelte sie und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, zu sprechen.

„Du weißt, wovon ich spreche, wenn ich sage, dass das Tagebuch eine besondere Macht über einen Menschen haben konnte. Dir hat es befohlen, die Kammer zu öffnen und andere, grausige Dinge zu tun. Mir hat es befohlen, es einem Schüler von Hogwarts zu überlassen. An dem Tag, als wir uns in der Winkelgasse trafen, hatte ich vor, es dem nächstbesten Nichtsnutz, der mir über den Weg lief, in die Tasche zu schieben. Ich wollte es eigentlich nicht tun, denn ich wusste, welche Gefahr in dem Buch schlummerte und was es anrichten könnte, wenn es in die falschen Hände geriet. Draco hätte ich es deshalb niemals gegeben. Aber ich hatte Angst. Es war mir befohlen worden und einen Befehl des Dunklen Lords, ob er nun angeblich besiegt war oder nicht, den verweigert man nicht so einfach. Und dann habe ich dich gesehen, wie du dich mutig vor deinen Freund gestellt hast, um ihn zu verteidigen. Wie du keinen Millimeter vor Draco zur Seite gewichen bist und dann trotzig in meine Augen gestarrt hast. Ich habe dir das Tagebuch untergejubelt, weil ich dachte, dass du eine Chance gegen diese Macht haben könntest."

Ginny setzte zu einer Erwiderung an, doch er unterbrach sie und sprach weiter: „Das ist die eine Möglichkeit, nämlich dass ich versucht habe, aus einer ausweglosen Situation noch etwas Gutes zu machen. Aber seien wir ehrlich. So wird es wohl in Wahrheit nicht gewesen sein, oder? Ich habe von jeher versucht, das Beste für mich aus jeder Situation herauszuholen. Und mit dir konnte ich zwei Wichtel mit einem Stein treffen. Ich konnte Arthur eins auswischen, der in meinem Kreisen als eine Schande der Zaubererschaft gilt, und ich konnte auch Potter treffen, der dich mochte und, viel wichtiger, den du mochtest. Du würdest versuchen, in seiner Nähe zu bleiben, du warst die Schwester seines besten Freundes und du warst jung und unerfahren genug, um dem Zauber des Tagebuchs so schnell und so heftig zu verfallen. All das ist mir ins Auge gesprungen, als du mich im Flourish & Blotts angestiert hast, als könntest du mir auch nur ein Haar krümmen.

Und jetzt bist du dran. Welche Geschichte stimmt wohl? Die erste? Die zweite? Keine von beiden? Wir sehen manchmal nur das, was wir sehen wollen und bleiben blind für die bittere Wahrheit. Du gehst jetzt wieder, Ginevra. Und es ist besser, wenn du nicht noch einmal herkommst."

Er sah, wie Ginny langsam aufstand und auf ihn zukam. Die Enttäuschung in ihrem Blick war so schon schlimm genug und wenn sie jetzt die für ihn falschen Worte oder Gesten wählte, konnte er nicht dafür garantieren, dass er stark blieb und den Mund hielt. Das musste er um jeden Preis verhindern und das erste, was ihm dafür in den Sinn kam, war dann doch Draco. Also spuckte er ihr mit voller Kraft ins Gesicht und zischte: „Komm mir nicht zu nahe!"

Sie starrte ihn schockiert an, dann spürte er, wie ihn etwas mit Wucht in den Magen traf. Lucius krümmte sich vor Schmerz. Der schnauzbärtige Wärter stand mit gezücktem Zauberstab in der Tür und hatte das Gesicht zu einer Grimasse verzogen.

„Na, na. So geht man aber nicht mit einer Lady um, was? Lass dir das eine Lehre sein. Kommen Sie, Ma'am, ich bringe Sie zum Ausgang."

Der Wachmann nahm Ginny am Arm und geleitete sie hinaus. Die Tür fiel krachend ins Schloss und Lucius blieb allein mit seinem schlechten Gewissen und noch immer unter Schmerzen, gefesselt in dem Stuhl kauernd zurück.

Lumine III - FeuerprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt