Mit dem Leben kamen die Schmerzen zurück in ihren Körper. Ein gleißendes Licht brannte in ihren geschlossenen Augen und es dröhnte in ihren Ohren. Sie spürte jeden Nerv und jeden Muskel, spürte ein starkes Ziehen im Rücken von der Schulter bis zum Steiß, spürte ein Brennen an der Hüfte. Nach der friedlichen Zwischenwelt reagierten all ihre Sinne um ein Vielfaches stärker auf die vielen Reize, die nun wieder auf sie einströmten. Alles tat ihr weh, vom kleinen Zeh bis hinauf zu den Haarspitzen, doch sie war glücklich darüber, denn es bedeutete, dass sie wieder einen Körper hatte. Sie versuchte, die Augen mit der Hand abzuschirmen, aber sie konnte den Arm nicht heben. Beide Arme und auch ihre Beine waren spürbar fixiert.
„Hallo?"
Der Versuch eines Hilferufes klang mehr wie ein heiseres Krächzen. Sie räusperte sich, einmal, zweimal und fühlte, wie ihre Stimme langsam kräftiger wurde.
„Hallo?", probierte sie es erneut und diesmal schien jemand von ihr Notiz genommen zu haben, denn nur Sekunden später spürte sie zwei Hände an ihrem linken Arm, die sie energisch packten.
„Mine?", hörte sie eine gedämpfte, aber deutlich aufgeregte Stimme, „Mine? Hörst du mich?"
Die Hände ließen sie los und sie hörte, wie jemand davon hastete.
„Sie ist wach! Wir brauchen einen Heiler!"
„Ron?", flüsterte sie.
Das war doch Ron, oder nicht? Sie wollte sehen, ob ihre Ohren sie auch nicht täuschten, und blinzelte ein wenig, aber das Licht war noch zu grell, als dass ihre zu lange geschonten Augen es aushalten konnten.
„Bitte, das Licht..."
„...sich bewegt und etwas gesagt."
„Ma'am? Können Sie mich hören?"
Jemand hob ihr linkes Augenlid an, was sie vor Schmerz schreien ließ. Kurz darauf ließ das Licht endlich nach, sodass sie die Augen vorsichtig öffnen konnte. Erst war alles noch ein wenig breiig, dann konnte sie verschwommen einen roten Haarschopf und einen mintgrünen Umhang erkennen. Eine kühle Hand tastete an ihrem Handgelenk nach dem Puls und der Heiler sprach unablässig mit ihr. Es fiel ihr schwer, zu antworten, doch sie versuchte wenigstens zu zeigen, dass sie verstand. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie wieder bei vollem Bewusstsein war und ihre Sinne mit der Welt um sie herum klarkamen.
„Wir verlegen Sie jetzt auf Ihr Zimmer", erklärte der Heiler schließlich, „dort können Sie sich in aller Ruhe erholen. Sie hatten wirklich Glück, Ihre Rückwandlung stand auf Messers Schneide und mit den Folgen eines derartigen Zaubers ist nicht zu spaßen."
Mit einem Wink seines Zauberstabes setzte er Hermines Bett in Bewegung und kurz darauf erreichten sie das übertrieben große Zimmer, das den Malfoys zu gehören schien.
„Du willst bestimmt wissen, was mit dir passiert ist, oder?", fragte Ron, nachdem der Heiler sich von ihnen verabschiedet hatte. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben ihr Krankenbett.
Hermine lächelte gequält: „Nein, schon gut. Lucius hat mir alles erzählt. Wo ist er überhaupt?"
Sie hatte erwartet, ihn in diesem Zimmer anzutreffen, aber es gab keine Spur von ihm. Vermutlich war er noch in einem anderen Behandlungsraum.
„Er hat... Was? Wann? Wie?", stammelte Ron.
„Wir haben uns am Bahngleis getroffen und sind beide in unsere Züge eingestiegen, verstehst du?"
„Nicht... wirklich", sagte er mit seinem üblichen verwirrten Gesichtsausdruck.
„Wir waren in King's Cross, so wie Harry mit Dumbledore. Damals als Harry getötet wurde, weißt du noch?"
Langsam schien es ihm zu dämmern.
„Denkst du nicht, dass das, naja, vielleicht nur ein Traum war?"
„Ganz sicher nicht. Er hat mir alles erzählt. Dass er den Lockvogel für Harry gespielt hat, dass ich entführt worden bin und er in meinem Geist nach Hinweisen gesucht hat, dass er mich aus dem Feuer retten wollte, dass ich eine Schneekugel war..."
Ron schien sich sehr unwohl in seiner Haut zu fühlen. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her und mied ihren Blick.
„Glaubst du mir nicht? Ist das denn nicht wahr?"
„Doch, ich denke schon, aber..."
Es klopfte und eine junge Heilerin steckte den Kopf herein: „Entschuldigen Sie, Ma'am, ist es Ihnen recht, wenn wir Mr. Malfoy zu Ihnen in dieses Zimmer verlegen?"
Hermine lächelte sie strahlend an: „Natürlich! Ich habe schon darauf gewartet."
Die Hexe runzelte kurz verwirrt die Stirn, dann öffnete sie die Tür weit genug, um ein Krankenbett hereinschweben zu lassen. Hermines Lächeln gefror, als sie erkannte, dass es nicht Lucius war, der dort hereingebracht wurde, sondern Draco. Er schien zu schlafen und sah übel mitgenommen aus. Seine Haare waren büschelweise ausgefallen oder ausgerissen worden und die Kopfhaut glänzte im Vergleich zu seiner sonst so verhärmten Haut viel zu hell und glatt an diesen kahlen Stellen.
„Was ist mit ihm passiert?", fragte Ron offensichtlich genauso überrascht wie Hermine. Wahrscheinlich hatte er auch nicht mit Malfoy Junior gerechnet.
„Er wäre fast verbrannt. Wenn man ihn nur ein paar Minuten später gefunden hätte, hätten wir nichts mehr für ihn tun können", sagte die Heilerin und zupfte die Bettdecke zurecht. „Brauchen Sie noch etwas?"
„Nein, danke", sagte Hermine und als sie wieder allein waren, raunte sie Ron zu, „das ist seltsam oder? Meinst du, er wurde auch angegriffen?"
Ron nickte: „Malfoy wusste zwar nichts davon, aber Harry hat mit so etwas gerechnet und heute Morgen noch Alarmzauber in eurem Haus platziert. Mayhem ist ja immer noch auf freiem Fuß. Ich fand die Idee total bescheuert, diese Lockvogelsache hat ja schon mit Lucius super geklappt."
„Er ist tot", Draco starrte ausdruckslos an die Decke. Offenbar hatte er doch nicht geschlafen, „Die Flammen haben ihn endlich erwischt."
„Was?", fragte Hermine.
„Bist du verrückt?", rief Ron wütend, „Du kannst ihr doch nicht einfach so mir nichts dir nichts sagen, dass er tot ist! Hast du denn überhaupt kein Taktgefühl? Verdammt, Malfoy!"
„Wer ist tot?", fragte sie und sah nervös zwischen den beiden hin und her.
„Bist du so dumm, Weasley? Ich rede von diesem Irren. Hat das ganze Haus abgefackelt und mich fast mit. Denkst du wirklich, ich würde so über den Tod meines Vaters sprechen?"
„Über", Hermine begann zu zittern, „nein... Nein, das kann nicht sein..."
Sie schüttelte den Kopf. Er war nicht tot. Das war ein Irrtum. Eine Verwechselung. Sie hatten zusammen die Zwischenwelt verlassen, waren beide in ihre Züge eingestiegen und zurückgekommen.
„Scheiße", flüsterte Ron, „es tut mir so leid, Mine."
Sie starrte ihn an, unfähig etwas zu sagen, während die schreckliche Wahrheit in ihrem Verstand dämmerte. Sie waren in unterschiedliche Züge gestiegen. Ihrer war umgekehrt, doch seiner hatte ihn weitergebracht. Weiter. Endgültig weg von ihr. Sie hatten sich voneinander verabschiedet, wissend, dass sie sich in diesem Leben nicht wiedersehen würden, und nun war sie hier und er war fort. Heiße Träne stiegen in ihr auf und ein Wimmern entfuhr ihrer Kehle. Ron tätschelte betreten ihre Hand, doch Hermine zog sie weg und sprang auf. Sie lief ruhelos in der Suite auf und ab. Alles hier erinnerte sie schmerzhaft an Lucius. Selbst die Obstschale auf dem Tisch, in der glänzend rote Äpfel als Stärkung bereitlagen. In dem Traum, den Witherfork ihr eingepflanzt hatte, hatte Lucius einen Apfel in einen Wildblumenstrauß verwandelt und ihr danach einen Kuss auf die Wange gegeben. Sie konnte sich noch daran erinnern, als ob es gestern gewesen wäre, obwohl es ja eigentlich nie wirklich geschehen war. Aber was machte das jetzt noch für einen Unterschied? Ob ihre Erinnerung echt war oder sich nur so anfühlte, sie war alles, was ihr noch von ihrem Mann geblieben war. Ein Schrei bahnte sich seinen Weg und brach aus ihr heraus. Es war nur der durchdringende Beginn ihres Wehklagens, das sie auf die Knie sinken ließ. Jemand kam zu ihr auf den Boden und schlang die Arme tröstend um sie. Erst wollte sie sich sträuben, dann erwiderte sie die Umarmung und klammerte sich so fest es ging. Sie roch versengtes Haar und musste die Augen nicht öffnen, um zu wissen, dass es Draco war, der hier mit ihr gemeinsam trauerte. Und sie war dankbar, dass er in diesem Moment an ihrer Seite war.
Sie verharrten eine ganze Weile in ihrer stummen Umarmung, bis ein Heiler zur Visite hereinkam, sie wieder in ihre Betten beorderte und Ron freundlich aber bestimmt hinausbat. Er hatte sich offensichtlich schuldig gefühlt, weil er ihr die schlechte Nachricht, wenn auch unbeabsichtigt, so unsanft mitgeteilt hatte. Er hätte ihr deswegen leid getan, wenn sie nicht so sehr mit ihrer Trauer beschäftigt gewesen wäre, und war froh, als er fort und sie allein war. Nunja, fast allein. Draco lag ein paar Meter von ihr entfernt und eine merkwürdige Stille breitete sich zwischen ihnen aus. So sehr wie jetzt in diesem Moment hatten sie sich noch nie verstanden und sie brauchten keine Worte, um das auszudrücken. Noch immer liefen salzigen Tränen lautlos über ihre Wangen.
Es war schließlich Draco, der die Stille mit belegter Stimme brach: „Ich weiß noch genau, als er mir meinen ersten richtigen Besen geschenkt hat. Ich hatte zwar schon einen Kinderbesen, aber mit dem konnte man nur einen Meter hoch fliegen, oder so. Der neue war dann ein Komet 260, nicht gerade der schnellste, aber für einen Anfänger perfekt. Mit meinen acht Jahren wollte ich das aber natürlich nicht wahrhaben und habe ihn ewig damit genervt, dass ich einen besseren haben will. Er hat nicht nachgegeben. Hat gesagt, dass er sonst nicht gut schlafen kann. In den ersten Sommerferien habe ich so viel trainiert, dass ich manchmal nur zum Essen aus der Luft kam. Ich wollte unbedingt in die Mannschaft und Sucher sein, so wie Potter. Der arme Komet hat irgendwann den Geist aufgegeben, als ich ihn bei einem etwas zu waghalsigen Sturzflug im Springbrunnen versenkt habe. Mutter war zwar dagegen, aber Vater hat mir danach den neuesten Nimbus gekauft. Hat gesagt, dass der schneller reagiert und ich mir damit nicht so leicht den Hals brechen würde. Bei der Ausscheidung habe ich es dann trotzdem nicht ins Team geschafft. Reekes war seit zwei Jahren Sucher und hatte einfach schon viel mehr Routine und Erfahrung und für die anderen Positionen wollte ich mich nicht bewerben. Ich habe an dem Abend dann gleich eine Eule nach Hause geschickt, weil ich so am Boden zerstört war. Und was macht er? Kauft genügend neue Besen für die ganze Mannschaft und sorgt so dafür, dass ich doch dabei bin."
„Beliebt hast du dich damit nicht gemacht", sagte Hermine.
„Ich weiß. Aber ich war im Team und das habe ich nur ihm zu verdanken", er schwieg einen Moment, dann fuhr er fort, „Manchmal, wenn ich mich an früher erinnere, kommt es mir so vor, als wäre es nie wirklich geschehen. Oder zumindest in einem anderen Leben. Es ist so weit weg. Damals waren wir noch eine normale Familie. Bis es erst durch den Dunklen Lord und dann durch den Großmeister kaputt gemacht wurde. In Frankreich habe ich noch daran geglaubt, dass es wieder so werden könnte, wie vor dem Krieg. Aber nein, erst ist Mutter verrückt geworden, dann hat sie mich beißen lassen und wir wollten Vater ermorden. Ich wünschte, ich hätte mich richtig bei ihm dafür entschuldigen können, dass ich so eine Enttäuschung für ihn war."
„Unsinn, dein Vater hat dich geliebt. Er hat sehr darunter gelitten, dass ihr euch entzweit habt, aber er wusste, dass du unter einem Bann standest und nicht du selbst warst. Er hätte dich mit offenen Armen empfangen und dir wieder auf die Beine geholfen, wenn nicht..."
„Wenn nicht dieser Frank dazwischen gefunkt hätte. Oder Susan."
„Susan?", fragte Hermine überrascht. Lucius hatte ihr zwar erzählt, dass eine junge Frau beteiligt gewesen war, allerdings ihren Namen nicht gekannt.
„Er hat sie irgendwie dazu gebracht, einen unbrechbaren Schwur zu leisten, bei der ganzen Sache mit zu machen. Sie hat dich entführt und verwandelt, aber letztlich hat sie dein Versteck verraten und ist daran gestorben."
„Susan... Arme Susan. Wen hat dieser Verrückte denn noch alles auf dem Gewissen?"
Es war eher eine rhetorische Frage, Draco zählte dennoch auf: „Mutter, Susan, Vater, Beedy und sich selbst. Bei dir und bei mir ist er nur knapp gescheitert."
„Beedy? Wann? Wie?"
„Sie war ihm einfach nur im Weg, als er kam, um mich zu erledigen. Er hat mir noch gesagt, dass sie ihm in die Augen gesehen hat, als er sie getötet hat", antwortete Draco voll Abscheu.
Hermine legte eine Hand auf ihr Herz. Es war feige, eine so gütige Seele wie die alte Hauselfe zu töten. Das hatte sie nicht verdient.
„Wenn ich nach Hause komme, werde ich sie im Garten begraben. Sie hat ihr Blumenbeet geliebt. Es war nichts nützliches, sondern einfach schön und das war immer etwas besonderes für sie. Sie hat im Sommer stundenlang einfach nur dagesessen und die Bienen beobachtet."
„Das... ist eine schöne Idee."
Er behielt lieber erstmal für sich, dass von Beedy nach dem Feuer vermutlich nicht mehr viel übrig war. Sie schwiegen eine Weile, bis Hermine die Stille brach: „Du hast Witherfork vergessen."
„Was meinst du?"
„Na in deiner Aufzählung."
„Achso. Nein, habe ich nicht. Den hat Frank nicht getötet. Hat er mir selbst noch gesagt."
„Nicht? Aber... Wer dann?"
„Keine Ahnung. Aber wir sollten wohl Potter erzählen, dass er seinen Mörder immer noch nicht gefunden hat."
Sie schwelgten noch eine ganze Weile in Erinnerungen an Lucius und Beedy, bis eine junge Hexe ihnen das Abendessen brachte.
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Lumine III - Feuerprobe
FantasyACHTUNG! Enthält Spoiler zu Lumine I - Dornröschenschlaf und Lumine II - Wolfsbrut. Hermine und Lucius haben allen Widrigkeiten zum Trotz ihre Beziehung fortgesetzt und sind glücklich zusammen. Doch ihr Glück wird jäh zerstört, als ein Mord geschieh...