Es wurde nun langsam dunkel. Francine Chabot war überraschend ruhig, sie atmete tief und starrte aus dem großen Loch in der verfallenen Steinmauer auf das beeindruckende Panorama des Mont Ventoux, des Giganten der Provence. Schon die Kelten hatten diesen Berg als einen heiligen Ort verehrt und ihre mystischen Rituale auf dem Gipfel abgehalten. Und viele Jahrhunderte später hatte auch sie dort an einem Ritual teilgenommen, das ihr Leben verändert hatte. Zerstört hatte. Sie fand es deshalb nur passend, dass es nun mit dieser Aussicht enden sollte. Auf den Berg selbst wollte sie nie wieder einen Fuß setzen, deshalb hatte sie sich diese verfallene Ruine für ihren letzten Mond ausgesucht.
„Maman?", hörte sie Zacharie hinter sich jammern. Sie sah sich nicht um, denn der Anblick ihres Sohnes würde sie möglicherweise doch erweichen. Aber nein. Es endete nun. Hier und heute Nacht. „Maman..."
„Silencio!"
Sie ertrug es nicht, sein Weinen zu hören. Zacharie war ihr ein und alles, ihr Leben und deshalb der Grund, warum sie beide hier waren. Das Château de Pierregourde sollte einst als prächtige Höhenburg bereits aus weiter Ferne Eindruck schinden. Heute war es nur noch eine Ruine, in deren Innenhof sie sich und ihren Sohn festgebunden hatte. Heute war es ihr Richtplatz. Als sie davon Wind bekommen hatte, dass man ihr auf die Schliche gekommen war und nach ihnen suchte, hatte sie sich dazu entschlossen, ihren Leben eigenmächtig ein Ende zu setzen. Sie würde sich und ihr Kind nicht in die Hände der irdischen Justiz geben. In ihrer Wohnung lag ein Brief für ihre Verfolger bereit, der ihnen alles erklären sollte. Sie hoffte, dass sie ihr Handeln dann ein wenig verstehen würden, doch sie war dann nicht mehr auf ihre Gnade angewiesen.
Es war eine Vollmondnacht und schon seit Tagen kribbelte es bedrohlich in ihr - ein untrügliches Zeichen, dass ihnen eine Mondfinsternis bevorstand. Für einen Werwolf bedeutete das einen raschen und schmerzlosen Tod, wenn er sich in einer Nacht wie dieser unter freiem Himmel aufhielt, daher auch der Name Todesmond. Zacharie spürte genau wie sie das nahende Unheil. Sie konnte hören, wie er immer hektischer an seinen Fesseln zerrte. Er würde sich nicht befreien können, dafür hatte sie gesorgt. Jeden Monat waren die Qualen ihres Kindes schlimmer geworden. Selbst die höchste Dosierung des Wolfsbanntrankes hatte ihm kaum noch Linderung schaffen können. Der Vollmond versetzte ihn jeden Monat aufs Neue in eine Raserei, der sie immer weniger Herrin wurde. Unter unbändigen Schmerzen hatte er die letzten Male alles daran gesetzt, sich selbst die Eingeweide herauszureißen und nur mit größter Mühe hatte sie ihn davon abhalten können. Obwohl er noch so jung war, waren seine Kräfte den ihren inzwischen beinahe ebenbürtig und die Macht des Mondes verstärkte sie noch. Lange würde sie ihn nicht mehr davon abhalten können, sich selbst zu töten. Und daher hatte sie sich entschieden, dem Ganzen zu ihren Bedingungen ein Ende zu setzen. Ohne Schmerzen, ohne Blut, ohne Gemetzel.
Zacharie war kein normales Kind. Er war das Produkt eines alten Rituals, an dem sie zusammen mit ihrem Ehemann Levi und dessen Bruder Henry teilgenommen hatte. Sie waren eine Gruppe von 12 Werwölfen, die es satt hatten, sich verstecken zu müssen oder ständig angefeindet zu werden. Ihr Schwager hatte in einem uralten und beinahe unlesbaren Buch ein Ritual namens Wolfsbrut gefunden und es sich zur Aufgabe gemacht, es wieder zum Leben zu erwecken. Es hatte mehrere Jahre gedauert, bis er endlich alles zusammengefügt hatte, denn es fehlten ganze Seiten und selbst das, was noch lesbar war, musste erst noch entschlüsselt werden. Als es endlich so weit war, waren bereits drei von ihnen von einem alten Jäger erlegt worden, der ihnen auf die Spur gekommen war.
An dem Abend, der ihr Leben endgültig ins Verderben stürzte, hatten sie sich auf dem Gipfel des Mont Ventoux versammelt, viele schwarzmagische Formeln rezitiert, ihr Blut mit unheiligen Zutaten vermischt und getrunken, eiskalte Flammen entzündet und unkeusche Riten vollzogen. Sie und die anderen beiden Frauen in ihrer Runde wurden daraufhin trächtig, wie ihr Anführer es abfällig nannte, doch nur sie gebar gut neun Monate später einen gesunden Welpen. Louise und Adeline waren beide in einer Vollmondnacht gestorben und auch sie selbst hätte es damals beinahe nicht überlebt. Levi hatte ihr entgegen der ausdrücklichen Befehle seines Bruders einen Wolfsbanntrank verabreicht und das hatte ihr und dem Ungeborenen das Leben gerettet. Ihre Freundinnen hatten weniger Glück und wurden beide von den ungebändigten Föten in ihren Leibern zerfetzt. Sie hatte Nächte lang kein Auge mehr zubekommen, denn sie träumte jedes Mal sofort von den grausigen Bildern und hatte große Angst davor, dass es ihr beim nächsten Vollmond genauso ergehen könnte.
Als Zacharie drei Monate alt war, stürmte der Jäger ihren Unterschlupf. Henry hatte sich selbst in Sicherheit gebracht und die anderen ihrem Schicksal überlassen. Francine musste dabei zusehen, wie Levi und ihre Freunde fielen, und hatte es nur ihrem Kind zu verdanken, dass es ihr nicht genauso erging. Denn der Jäger war überrascht, als er den Schrei des Babys hörte und ließ seine Armbrust mit den Silberbolzen für einen kurzen Moment sinken. Das reichte ihr und sie schlug erbarmungslos zu. In ihrer menschlichen Form hatte sie noch nie getötet und sie hatte eine ganze Weile regungslos den leblosen Körper und das Blut an ihren Händen betrachtet, bis Zacharie sie wieder in die Realität zurückholte.
Sie waren ab diesem Zeitpunkt allein. Sieben lange Jahre hatten sie sich verborgen gehalten und waren immer wieder weitergezogen, denn bald stellte sich heraus, dass Zacharie unnatürlich langsam alterte. Nach einem Jahr war er kaum gewachsen, hatte sich sehr wenig verändert und fast nichts dazugelernt. Inzwischen war er immerhin auf dem körperlichen und geistigen Entwicklungsstand eines Zweijährigen. Francine hatte sich das damit erklärt, dass er eben kein normaler Junge war, sondern eine Wolfsbrut - ein Werwolf mit rohen Kräften, mit unerwarteter Macht und höherer Lebenserwartung als es ihr und allen anderen Menschen vergönnt war.
Vor fünf Monaten hatte es sie nach England verschlagen. Sie war es Leid, sich immer weiter verstecken zu müssen, und die dortigen Gesetze ermöglichten es den Werwölfen einigermaßen normal zu leben. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie in eine kleine Gruppe Artgenossen aufgenommen wurde und bis sie von einem Aufruhr erfahren hatte, den es vor einigen Jahren gegeben hatte. Unter ihresgleichen hatte sich schnell herumgesprochen, dass irgendein Irrer versucht hatte, mit unlauteren Mitteln an Macht zu gelangen und dabei über Leichen gegangen war. Wolfsbrut hatte er das genannt. Für Francine war sofort klar, dass ihr lieber Schwager dahinterstecken musste, das konnte kein Zufall sein. Sie forschte nach, stellte vorsichtig die richtigen Fragen und hatte bald herausgefunden, dass der Mann noch lebte und in Azkaban einsaß. Er nannte sich Amando Witherfork. Sie entschloss sich, endlich die verdiente Rache zu nehmen. Selbst falls es sich bei diesem Witherfork nicht um Henry handeln sollte, hatte er es genauso verdient wie ihr Schwager. Doch zu ihrem Glück war er es.
Das Schicksal hatte es endlich einmal gut mit ihr gemeint. Das stand spätestens dann fest, als die Eindämmungszauber bei ihrem Eintreffen plötzlich von der Zellentür abfielen. Sie musste sie nur noch öffnen und stand direkt vor ihm. Lächelnd dachte sie daran, wie er zusammengekauert auf dem Boden hockte. In seiner Zelle war es stockdunkel und das gedämpfte Licht des Ganges hatte ausgereicht, um ihn zu blenden. Sie hatte sich über ihn gebeugt, sein Gesicht zu sich gedreht und ihm gesagt, dass er sie anschauen solle. Spätestens als er ihre Stimme hörte, musste er gewusst haben, dass es vorbei war. Der Schnitt ging für ihr Empfinden viel zu schnell, doch sie hörte Schritte und hatte keine Zeit, seinen Tod länger auszukosten. Sie hatte das Messer fallen lassen und sich wieder davongemacht. Zurück zu Zacharie, der gerade dabei war, vor den Augen der irritierten, jungen Hexe seinen Teddy zu zerfetzen.
Ein Schauer lief über ihren Rücken und holte sie in die Gegenwart zurück. Die Verwandlung stand nun kurz bevor. Der Vollmond schob sich hinter dem Berggipfel hervor und die unheilige Magie begann zu wirken. Es dauerte nicht lange und sie hatten ihre Wolfsgestalten angenommen. Das Reißen und Zerren ihres Sohnes hatte sich um ein Vielfaches verstärkt, doch die Ketten hielten. Jetzt mussten sie nur noch warten. Bald waren sie endlich frei.
ENDE
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Lumine III - Feuerprobe
FantasyACHTUNG! Enthält Spoiler zu Lumine I - Dornröschenschlaf und Lumine II - Wolfsbrut. Hermine und Lucius haben allen Widrigkeiten zum Trotz ihre Beziehung fortgesetzt und sind glücklich zusammen. Doch ihr Glück wird jäh zerstört, als ein Mord geschieh...