07. August 2008 - Unterschlupf

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Lucius und Joan lagen stumm nebeneinander im Schatten der hohen Bäume am Rande des verbotenen Waldes, gerade außerhalb der Reichweite der peitschenden Weide. Diese war in ihrem fünften Jahr gepflanzt worden und attackierte alles und jeden, der sich ihr näherte. Seitdem verirrte sich erst recht kein anderer Schüler mehr in diesen Teil des Schlossgeländes, was es zum perfekten Treffpunkt für sie machte. Seit etwas über einem Jahr führten sie nun schon ihre heimliche Beziehung und das Ende ihrer gemeinsamen Zeit in Hogwarts rückte unaufhaltsam näher. Nach dem Abschluss würde es schwierig werden, sich weiterhin so regelmäßig zu treffen, denn der Einfluss seines Vaters war außerhalb der Schlossmauern erdrückend. Es war ein Wunder, dass bislang noch nichts von ihnen nach draußen gedrungen war. In drei Tagen würden nun endlich die UTZ Prüfungen beginnen und sie hatten das Gespräch über die Zukunft bisher immer vor sich hergeschoben.

Er grübelte noch vor sich hin, wie er das Thema am besten ansprechen könnte, als Joan die Stille brach: „Hast du mitbekommen, dass Emerics Vater tot ist? Es heißt, dass ihn einer von diesen Todessern angegriffen hat."

Emeric Wallbourne war ein Hufflepuff aus ihrem Jahrgang, ein unauffälliger Junge, mit dem er kaum einmal zwei Worte gewechselt hatte. Joan hatte freilich mehr mit ihm zu tun, da sie demselben Haus angehörten.

„Sein Vater war ein Muggel, oder?"

„Und was hat das damit zu tun?"

„Naja, dann wurde immerhin kein magisches Blut...", Lucius biss sich auf die Zunge, er hatte für einen Moment vergessen, dass Joans Vater ebenfalls kein Zauberer war.

„Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein?", rief sie und setzte sich ruckartig auf, wobei sie ihm mit ihrem Ellbogen unsanft in die Rippen stieß.

„Jo, es tut mir leid, das war nicht so gemeint."

Er hatte das Thema bisher immer gemieden, da er sich vor einem Streit mit ihr gefürchtet hatte.

„Oh doch, das war ganz genau so gemeint. Du findest, dass Muggel weniger wert sind!", stellte sie entsetzt fest.

„Nicht direkt weniger wert, aber eben keine von uns", sagte er und streckte die Hand nach ihr aus, doch sie wich einen Schritt zurück.

„Nicht direkt? Ich glaube, ich spinne. Wie kannst du so etwas sagen? Was ist dann mit mir? Bin ich auch keine von euch?"

„Deine Mutter ist eine Hexe, also bist du..."

„Ein Halbblut?", unterbrach sie ihn.

„Ja. Aber das stört mich nicht, du bist nur vielleicht etwas weniger mächtig als richtige Zauberer."

„Hörst du dir überhaupt zu? Richtige Zauberer?"

„Das... Jo, pass auf!", rief er ihr nach, als sie davonrannte und einem Peitschenhieb der Weide gerade so auswich.

Das war nicht so gelaufen, wie er sich das vorgestellt hatte. Warum hatte er auch nicht einfach den Mund halten können? Er wusste doch, dass der Blutstatus gerade ein Reizthema war, noch viel mehr als ohnehin schon, jetzt da immer wieder Muggelgeborene verschwanden und die Gerüchteküche zu brodeln begann. Er glaubte nicht daran, dass Lord Voldemort hinter dem Tod von Emerics Vater steckte. Vermutlich nutzten diese Phönix-Leute das nur als Propaganda. „Ein weiteres Opfer auf dem Kreuzzug der Reinblut-Fanatiker" konnte er schon die Schlagzeilen im Propheten lesen. Aber so war es ja in Wirklichkeit gar nicht. In den Ferien waren die Unantastbaren Achtundzwanzig in Malfoy Manor zusammengekommen und hatten über den Lord und seine Vorhaben diskutiert. Er wollte Squibs und Muggelgeborene in speziell für sie eingerichteten Schulen unterrichten, damit sie unter ihresgleichen waren und ohne Druck und ohne den ständigen Vergleich mit vollwertigen Magierkindern lernen konnten. Dadurch konnten sie einerseits gezielt gefördert werden und hielten andererseits auch nicht die anderen Schüler auf. Lucius fand, dass es nur logisch war, dass das Kind eines Zauberers und eines Muggels weniger Magie in sich trug, als das Kind zweier Zauberer. Und dass nicht im Sinn der Gemeinschaft sein konnte, wenn die Magie durch die Vermischung von magischem und nichtmagischem Blut immer schwächer wurde. Von einem Ausmerzen der Halb- oder Schlammblüter war bei diesen Gesprächen, entgegen der Behauptungen mancher, jedoch mit keinem Wort die Rede gewesen. Und Lucius war davon überzeugt, dass es dazu auch niemals kommen würde. Sie waren immerhin keine Monster.

Er raffte sich langsam auf. Statt die Zeit, die ihnen noch blieb, gemeinsam zu genießen, würde er den Rest des Abends im Gemeinschaftsraum der Slytherins verbringen müssen, bis es keine Fragen mehr aufwarf, wenn er sich allein zurückzog. Es fiel ihm schwer, dass er mit niemandem über Jo sprechen konnte, doch er wollte kein zweites Weihnachten riskieren. Lucius war gerade auf Höhe von Hagrids Hütte, als er vier Schüler vom Schloss herunterkommen sah. Er duckte sich hinter ein großes Wasserfass und wartete, bis sie vorbeigegangen waren. Es waren Gryffindors, zweites Schuljahr, wenn ihn nicht alles täuschte, die fröhlich miteinander plapperten und in der Richtung verschwanden, aus der er selbst vor wenigen Augenblicken gekommen war. Nur einer von ihnen hatte eine bittere Miene aufgesetzt, die seiner eigenen wohl gerade ziemlich ähnelte. Sie bemerkten ihn zum Glück nicht. Mit jedem Schritt, den er näher zum Schloss kam, wurde sein Herz ein wenig leichter, doch als er die krumme Brücke betrat und sich eine Gestalt aus den Schatten löste, rutschte es wieder bis in seine Zehenspitzen.

„Hallo", sagte der schwarzhaarige Junge nervös.

Es war nur Severus Snape, ein schüchterner Zweitklässler, der zwar keine Freunde im eigenen Haus hatte, dafür meist in Begleitung einer Gryffindor anzutreffen war, was ihn zu einem Außenseiter unter den Slytherins machte. Lucius selbst hatte bisher kaum mit ihm zu tun gehabt, nur ein, zwei Mal hatten sie in der großen Halle nebeneinander gegessen.

„Was willst du?", blaffte er ihn an und klang dabei schroffer als beabsichtigt, was wohl daran lag, dass er sich ertappt fühlte.

„Hast du zufällig Potter und seine Freunde gesehen?"

„Wen?"

„James Potter, ein Gryffindor aus meinem Jahrgang."

Lucius überlegte, ob er zugeben konnte, ihn gesehen zu haben, ohne sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Aber was sollte schon passieren. So wie es aussah, gab es ohnehin nichts mehr, was er noch schützen musste, und daher nickte er.

„Warum interessiert dich das?"

„Die treiben sicher etwas Verbotenes", antwortete der jüngere Schüler, „und ich muss Lily beweisen, dass er nicht gut für sie ist", fügte er mehr zu sich selbst als an Lucius gerichtet hinzu.

Lily... Das war sicher dieses Mädchen. Lucius beneidete Severus dafür, dass er ihre Freundschaft einfach offen zeigen konnte, ohne Konsequenzen deswegen fürchten zu müssen.

„Sie waren auf dem Weg Richtung Peitschende Weide", sagte er daher, „ist nur ein paar Minuten her."

Severus bedankte sich mit strahlenden Augen und eilte den anderen Zweitklässlern hinterher.


Severus Snape war die einzige Person, mit der Lucius jemals über Joan gesprochen hatte - an dem Abend, an dem die Welt, wie sie sie kannten, aufhörte zu existieren und an dem sie sich befreit hätten fühlen müssen. Sie waren beide mehr Gefangene ihrer Entscheidungen als überzeugte Anhänger des Dunklen Lords, was sie zwar voneinander vermuteten, aber niemals ausgesprochen hätten. Zu groß war die Gefahr, sich doch zu täuschen und sich selbst der Gnade Voldemorts auszuliefern. Und dass dieser keine kannte, hatten sie beide nur allzu bald gelernt. Dennoch waren sie Freunde geworden, soweit man sich unter diesen misstrauischen Umständen anfreunden konnte.

An besagtem Abend fühlten alle Todesser, dass etwas geschehen war, dass ihr Herr in eine weite Ferne rückte und sie von seiner Leine gelassen worden waren. Ungläubig und unsicher hatte Lucius sich auf den Weg zu Severus gemacht, um sich mit ihm über dieses merkwürdige Gefühl auszutauschen. Er hatte natürlich von der Prophezeiung gehört und wusste, was der Dunkle Lord vorgehabt hatte, aber er wäre nie im Traum darauf gekommen, dass dabei etwas schief gehen könnte. Zu mächtig war er und zu unschuldig sein Opfer. Severus war jedoch nicht zu Hause. Erst nachdem Lucius einige Minuten geklopft und gewartet hatte und gerade wieder aufbrechen wollte, erschien sein Freund vollkommen aufgewühlt aus dem Nichts. Am Anfang dachte er noch, dass das bedeutete, ihr Meister sei tatsächlich von ihnen gegangen, doch schnell stellte sich heraus, dass das zwar stimmte, jedoch nicht der Grund für Severus Zustand war. So kam es dazu, dass sie an jenem Abend gemeinsam um ihre ermordeten Freunde trauerten und danach für immer den Mantel des Schweigens über sie ausbreiteten.

Er fragte sich, wie sein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn er in einem anderen Umfeld aufgewachsen wäre. Mit einem anderen Vater, der ihn nicht nur als Stammhalter sah, sondern als Person. Wenn er sich von ihm losgesagt und ein eigenes Leben geführt hätte. Wenn er sich nicht Lord Voldemort angeschlossen hätte, sondern an Joans Seite dem Orden des Phönix beigetreten wäre. Vielleicht wäre er dann mit ihr gestorben, vielleicht hätten sie beide überlebt. Das waren natürlich rein theoretische Überlegungen, denn, selbst wenn er einen Zeitumkehrer hätte, würde er ihn nicht nutzen. Hätte ihn auch damals nicht genutzt. Mit der Zeit spielte man nicht, denn der Schaden wäre dann möglicherweise noch um ein Vielfaches höher. Was, wenn jemand anderes seinen Part auf Seiten Voldemorts übernommen hätte? Es war nicht undenkbar, dass derjenige die ihm gestellten Aufgaben erfüllt und der Krieg einen anderen Ausgang gefunden hätte. Nein, er hatte seine unrühmliche Rolle gespielt und war dadurch zwar auf beiden Seiten in Ungnade gefallen, doch schlussendlich war er nun frei und die Welt war es auch. Das Risiko, dass jemand in der Vergangenheit herumpfuschte und dadurch den Lauf der Dinge zum Schlechteren wandte, war viel zu groß. Es war gut so, wie es war.

Stirnrunzelnd blickte er in einen zerkratzten Spiegel an der Wand. Er hatte sich so gut es ging frisch gemacht. In seinem Unterschlupf gab es kein fließendes Wasser, daher hatte er sich nur Mithilfe von Magie waschen können. Das hatte ihn zwar gereinigt, aber der erholsame Effekt einer heißen Dusche war so natürlich ausgeblieben. Doch es war nicht sein müdes Äußeres, das ihn stutzig machte. Es war etwas anderes. Es war die Erkenntnis, dass er darüber froh war, wie die Geschichte um Lord Voldemort und Harry Potter zu Ende gegangen war. Dass der Junge gesiegt hatte und sein Herr gefallen war. Dass nicht die Dunkelheit die Oberhand über die Welt hatte, sondern das Licht und dass er ein Teil davon war. Er lebte nun in einer Welt, in der er keine Angst mehr davor haben müsste, seine Gefühle für Joan zu offenbaren, in der er keine Scham empfinden musste, dass er eine Hexe liebte, deren Eltern keine Zauberer waren, in der es ihm egal sein konnte. Und er sah im Spiegel, dass er dabei einfach er selbst blieb. Er konnte sich dabei stolz in die Augen sehen.

„Du bist dein eigener Herr", sagte er zu sich und mit neuer Entschlossenheit steckte er sich seinen Ehering an den Finger, den er zuvor nach dem erfolglosen Versuch, Hermine aufzuspüren, wieder abgelegt hatte. Sofort durchzuckte ihn diesmal ein verschwommenes Bild von schummrigem Licht und tief hängenden Ästen. Das konnte nur bedeuten, dass Hermine, wo auch immer sie war, langsam wieder zu Bewusstsein kam. Es gab also noch Hoffnung.

Ohne Umschweife apparierte er an den Ort, an dem Hermine verschwunden war. Er trug Potters Tarnumhang, was ihm zusätzliche Sicherheit gab. Mit wenigen Schritten erreichte er die Spitze des Hügels und wollte gerade hinauf in die Baumkrone fliegen, als er eine Stimme hörte und kurz darauf den Aufprall eines Zaubers spürte. Jemand hatte versucht, ihn zu enttarnen. Reflexartig hob er seinerseits den Zauber des Angreifers auf, der sich dort im Schatten der Wurzeln verborgen hielt. Als Draco vor seinen Augen erschien, nahm er beinahe instinktiv den Umhang ab. Es war Zeit, reinen Tisch zu machen.

Lumine III - FeuerprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt