Als Hermine endlich wieder auf einer für Londoner Verhältnisse ruhigen Straße stand, war es bereits Mittag. Sie überlegte, ob sie gleich nach Azkaban apparieren sollte, doch sie entschied sich dazu, noch einen Tag zu warten. Vorher musste sie sich einen Plan zurecht legen. Was sollte sie zu Lucius sagen? Was würde ihn davon überzeugen, ihre Hilfe anzunehmen? Sie hatte das sichere Gefühl, dass der Umstand, dass er in Azkaban gefangen war, für sich genommen noch nicht ausreichte.
Wieder zurück im Blinden Troll packte sie ihren Koffer. Es machte keinen Sinn hier zu bleiben, während Lucius im Gefängnis war. Im Cottage konnte sie klarer denken, außerdem würde es früher oder später Fragen aufwerfen, wenn sie im Pub blieb. Alva war gerade ausgeflogen, aber Eulen waren ja auf eine so wundersame Weise mit ihren Besitzern verbunden, dass sie sie ohne Probleme finden würde. Hermine schrumpfte den Koffer und den Käfig, sodass sie in ihre Tasche passten und verließ das Zimmer. Als sie Buck das Geld und die Schlüssel über die Theke reichte, kam ihr ein Gedanke.
„Sag mal, die drei Wachen aus Azkaban, die gestern hier waren, kommen die öfter vorbei?"
„Moe und die anderen?"
„Ich glaube, so hieß einer von ihnen, ja."
„Hmmm. Ich weiß nicht viel über die."
„Kennst du die Nachnamen? Oder wo sie wohnen?"
„Nee, da kann ich dir nicht weiterhelfen, tut mir leid", Buck zuckte mit den Schultern, „erstens, weil ich es wirklich nicht weiß, und zweitens, weil meine Gäste darauf vertrauen können, dass ich nicht frage, warum sie hier etwas trinken oder übernachten, und dass ich nicht ausposaune, dass sie es tun. Wenn du verstehst."
Hermine spürte, dass sie rot wurde und nickte verlegen: „Ich verstehe. Danke Buck."
„Keine Ursache. Wir sehen uns dann Mittwoch gegen 20 Uhr."
Sie hatte sich bereits zum Gehen gewendet, drehte sich aber irritiert noch einmal um. Der Kobold zwinkerte ihr zu und benutzte das Küchentuch, das er über der Schulter liegen hatte, um ein Glas damit zu polieren. Das Gespräch war beendet. Hermine schmunzelte und verließ den Pub. Nachdenklich schlenderte sie die Nocturngasse entlang, bis sie mitten im bunten Treiben der Winkelgasse stand. Es dauerte keine fünf Minuten, bis sie das erste Mal von einer Familie angesprochen wurde.
„Hallo Professor!", rief ein blondes Mädchen. Es war eine Ravenclaw namens Rosie Lancaster, die im Sommer in die fünfte Klasse kommen würde. Hermine schüttelte die Hände der Eltern und unterhielt sich einen Moment mit ihnen. Rosie war muggelstämmig, wie sie selbst, und in den Lancasters erkannte sie die gleiche Neugierde, die ihre Eltern immer wieder aufs Neue versprühten. Es war eben eine faszinierende und fremde Welt, in die jemand wie sie stolperte.
„Wir sehen uns in der Schule, Miss Lancaster. Und bis dahin: Genießen Sie Ihre Ferien."
„Das mache ich."
Sie verabschiedeten sich und Hermine schlenderte weiter. Als sie an Weasleys Zauberhafte Zauberscherze vorbeikam, zögerte sie kurz, dann betrat sie den Laden, in dem sich Zauberer und Hexen allen Alters drängten. Peruanisches Finsternispulver und Kotzpastillen waren noch immer der Renner, genauso wie die klassischen Weasley Feuerwerkskörper, die es in allen Größen, Formen und Farben gab. Sie beugte sich neugierig über einen brodelnden Kessel und betrachtete das bunte Farbenspiel.
„Ich würde einen Schritt zurücktreten, Ma'am", sagte ein junger Mann mit spärlichem Oberlippenflaum, dessen orangefarbene Weste ihn als einen Mitarbeiter auswies. Er hatte gut daran getan, sie zu warnen, denn nur ein paar Sekunden später blies der Kessel in der Auslage eine beeindruckende Stichflamme in die Luft.
„Es ist nicht gefährlich, aber man kriegt den Gestank tagelang nicht aus den Haaren."
„Danke."
„Gefällt dir unser Seamus Flammigan?"
Ron tauchte hinter ihr auf und fügte zu dem Jungen gewandt hinzu: „Wir brauchen neue Schleuderbesen, Gatt, im Lager sollten noch ein paar sein."
„Jawohl, Mr. Weasley, ich hole sie sofort."
Als Gatt verschwunden war, sagte Hermine: „Der gehorcht dir ja aufs Wort."
„Das will ich hoffen, ich bezahle ihm schließlich auch eine ganze Menge."
„Seamus Flammigan?"
„Haben wir neu im Sortiment. Wundert mich, dass wir so lange gebraucht haben, um darauf zu kommen. Was meinst du? Fast so gut, wie der echte, oder?"
„Es macht Seamus jedenfalls alle Ehre. Habt ihr auch etwas, das mit mir oder Harry zu tun hat?"
„Nee. Ihr beide seid nicht unbedingt... witzig."
„Hey! Ich kann auch komisch sein."
„Ja, unfreiwillig!", lachte Ron und Hermine knuffte ihn in die Seite.
„Du bist gemein."
„Nein, nur ehrlich", er blickte sich im Laden um und fragte dann: „Bist du heute allein hier?"
Hermine nickte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen: „Manchmal braucht man eben Zeit für sich."
Ron runzelte die Stirn und sah auf die große Uhr an seinem Handgelenk.
„Der größte Ansturm ist für heute vorbei. Wenn du darüber reden willst..."
„Nein, schon gut. Alles in Ordnung."
„Sicher? Ich weiß, ich steh oft auf dem Schlauch und so, aber irgendwas stimmt doch nicht?"
„Es ist nur..."
Ihr Blick fiel auf zwei ihrer Schüler, namens Simon Higgs und Gabriel Hoover. Sie waren Gryffindors, die im kommenden Schuljahr die Abschlussklasse besuchen würden und die sie immer an eine ungute Mischung aus Harry und Ron erinnerten. Die beiden standen nicht weit von ihnen entfernt und lauschten offensichtlich ihrer Unterhaltung.
„Lass uns nach oben gehen", sagte sie leise und drängelte sich an den anderen Kunden vorbei nach draußen, wo Ron zu ihr stieß.
Er öffnete die Haustür, die sich nur ein paar Meter weiter im gleichen Gebäude befand und ein unfassbar schiefes Treppenhaus offenbarte. Keine Stufe befand sich in einem rechten Winkel zur Wand und keine lag direkt über der anderen. Der Weg von der Haustür hinauf in die Wohnung fühlte sich jedes Mal so an, als wäre man betrunken. Die Wohnung war groß und hell, mit Fenstern, die einen beeindruckenden Blick über das London der Zauberer ermöglichten, von draußen aber nicht zu sehen waren. George und seine Frau Angelina waren schon vor ein paar Jahren mit ihren Kindern Fred und Roxanne aufs Land gezogen und hatten Ron die Wohnung überlassen. Er hatte ab und an kurze Liebschaften gehabt, aber es war nie etwas ernstes daraus geworden, und so lebte er allein hier.
„Ich habe keinen Besuch erwartet, sonst hätte ich aufgeräumt", sagte er entschuldigend und begann damit, ein wenig Ordnung zu schaffen.
„Macht nichts, ich bin ja auch nicht für eine Inspektion hier."
„Achso? Und ich dachte schon, Mum hat dich geschickt, um ihr zu berichten, wie verlodert ich lebe."
„Solange nicht gleich eine Horde nackter Zwerginnen aus deinem Schrank fällt, habe ich nichts zu berichten."
„Ha. Die sind zum Glück heute Morgen schon abgereist", grinste Ron und ging in die Küche, „was möchtest du trinken?"
„Nichts, danke."
„Ach, quatsch. Ich habe hier eine Flasche Kirschwein, den Fleurs Vater Dad zum Geburtstag geschenkt hat. Er mochte ihn nicht und hat ihn mir gegeben. Unfassbar teuer das Zeug, eine Flasche kostet über 100 Galleonen."
„Nein, wirklich. Aber lass ihn dir schmecken."
Ron ließ sich mit einem Glas voll dunkelroter Flüssigkeit neben Hermine auf die Couch fallen.
„Bist du schwanger?"
„Was? Nein! Nein, sicher nicht."
Das wäre gerade der Supergau. Aber zum Glück für sie gab es ja dieses unsägliche Ritual, dank dessen sie keine Kinder bekommen konnten. Sie hatten zwar vorgehabt, das Thema in den nächsten Monaten anzugehen, doch dazu war es noch nicht gekommen. Es konnte also nicht sein. Es konnte definitiv nicht sein.
„Was beschäftigt dich dann?"
Sie war sich nicht sicher, ob es klug war, Ron davon zu erzählen, aber er sah sie so besorgt und ehrlich interessiert an, sie konnte nicht widerstehen. So oft hatte sie ihm vorgeworfen, nicht zuzuhören, doch in der Hinsicht hatte er sich wohl tatsächlich geändert. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, berichtete sie ihm, was geschehen war. Er lauschte aufmerksam ohne sie zu unterbrechen und zog nur ab und an eine Grimasse, an der Hermine sehr gut erkennen konnte, was er davon hielt.
„Und du hattest keine Ahnung, dass man ihn festgenommen hat?"
„Nein! Harry hätte es mir wahrscheinlich noch tagelang nicht erzählt, wenn ich es nicht zufällig herausgefunden hätte. Das ist unglaublich, oder?"
„Ja. Das sieht ihm auch gar nicht ähnlich."
„Ich weiß! Das dachte ich mir auch schon. Aber es verhalten sich gerade alle im Ministerium ein wenig seltsam. Vielleicht ist es auch nur der Eindruck als Ehemalige."
„Ich frage mich, was diese Beweise sind, die sie angeblich haben. Muss ja gravierend sein. Ich könnte meine Schwester darauf ansetzen."
„Nein! Bitte, Ron, versprich mir, dass du mit niemandem darüber sprichst. Vor allem nicht mit Ginny oder Harry."
„Ginnys Geburtstag nächste Woche stelle ich mir ja auch angenehm vor. Mit Harry und Lucius an einem Tisch. Wird bestimmt spaßig."
„Ich glaube kaum, dass es überhaupt ein nächstes Treffen geben wird, geschweige denn nächste Woche. Ich habe keine Ahnung, wann sie ihn wieder gehen lassen. Eigentlich dürfte es nicht mehr lange dauern, aber... nun ja, Lucius hat mehr als deutlich gemacht, dass er an mir und unserem Leben nicht mehr interessiert ist, von daher ist es auch egal."
Ron sah sie nachdenklich an und nahm einen Schluck von seinem Wein.
„Ich weiß nicht Hermine, du hast ihn ja auch noch gern, oder? Vielleicht braucht er einfach ein bisschen Zeit, um sich darüber klar zu werden, was er eigentlich will."
„Was ist los mit dir? Du klingst so vernünftig", spöttelte Hermine.
„Tja, was soll ich machen, manchmal geht es eben mit mir durch."
Ron leerte den Rest Kirschwein, nahm ihre Hand und sah sie ernst an: „Der Gedanke, dass du nicht glücklich bist, ist eine Qual für mich. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, musst du es nur sagen. Ich werde immer für dich da sein, das weißt du doch, oder? Wenn du reden willst oder einfach Gesellschaft haben möchtest. Vielleicht brauchst du ein wenig Ablenkung? Wir könnten viel Spaß miteinander haben. Wie in alten Zeiten, weißt du noch?"
Sie räusperte sich betreten. Etwas an seinem Blick war ihr un
behaglich und sie wollte ihre Hand wegziehen, doch er hielt sie fest. Oh, Ron, tu das nicht, dachte sie und versuchte ihm stumm klar zu machen, dass er sich beherrschen sollte, bevor das Ganze für sie beide peinlich werden konnte.
„Vielleicht... Vielleicht tut es dir ganz gut, wenn ihr euch eine Weile nicht seht. Dann kannst du dir auch klar darüber werden, was du eigentlich willst. Vielleicht ist er doch nicht der Richtige für dich..."
Er rutschte ein Stück näher und streckte seine freie Hand nach ihrem Gesicht aus, doch sie sprang schnell auf, bevor er sie erreichen konnte, und sagte hastig: „Ich muss jetzt los", an der Tür drehte se sich noch einmal um, „danke, dass du mir zugehört hast, du bist wirklich ein wahrer Freund."
Sie betonte die letzten beiden Worte, um deutlich zu machen, dass es mehr als Freundschaft zwischen ihnen nicht mehr geben würde. Was war nur in ihn gefahren? Hatte er etwa die ganze Zeit noch Gefühle für sie gehabt? Hoffentlich hatte sie ihn mit ihrem abrupten Abschied nicht zu sehr gekränkt, denn das letzte, was sie gerade gebrauchen konnte, war, dass der Inhalt ihres Gesprächs an die Öffentlichkeit geriet.
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Lumine III - Feuerprobe
FantasyACHTUNG! Enthält Spoiler zu Lumine I - Dornröschenschlaf und Lumine II - Wolfsbrut. Hermine und Lucius haben allen Widrigkeiten zum Trotz ihre Beziehung fortgesetzt und sind glücklich zusammen. Doch ihr Glück wird jäh zerstört, als ein Mord geschieh...