07. August 2008 - King's Cross

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Alles, sie inbegriffen, strahlte in einem übernatürlichen Weiß und ihre Augen brauchten eine Weile, bis sie sich daran gewöhnt hatten. Sie standen sich gegenüber, nackt, ihre leuchtenden Antlitze frei von allen Wunden und Schatten, die ihre Körper in der realen Welt trugen. Es war totenstill und nichts regte sich, sie waren die einzigen Lebewesen an diesem mystischen Ort. Hermine kannte die Szenerie aus Harrys Erzählungen. Wie er, nachdem er von Voldemorts Todesfluch getroffen worden war, befanden sie sich nun auf einem Bahnsteig in King's Cross. Auf beiden Gleisen stand ein weiß opalisierender Zug bereit, um sie weiter zu bringen. Sie mussten nur einsteigen und den Schmerz und all ihre Probleme hinter sich lassen. Es war sehr verlockend, das musste sie zugeben, aber es war noch nicht ganz so weit. Während sie die Bedeutung von alledem auf sich wirken ließ, löste Lucius sich aus seiner Starre. Er hatte noch nie etwas von einem Ort wie diesem gehört, aber es war unschwer zu erraten. Das hier war die Schwelle vom Leben in den Tod. Überwältigt von der überirdischen Schönheit seiner Umgebung, drehte er sich um die eigene Achse. War das hier ein Einblick in das Jenseits? Er hätte erwartet, dass er sein Dasein in einer dunkleren Ewigkeit fristen würde. Dort, wo böse Menschen nunmal hinkamen, zumindest nach jedem Ammenmärchen, das jemals auf Erden erzählt worden ist. Natürlich hatte er bemerkt, dass er nicht allein hier war und als er seine Drehung vollendet hatte und wieder direkt vor Hermine stand, konnte er es nicht weiter ignorieren. Sie hatte ihn beobachtet und sich gefragt, warum sie zusammen hier waren. Es konnte eigentlich nur bedeuten, dass sie beide gestorben waren - vielleicht zur gleichen Zeit oder am gleichen Ort, vielleicht auch beides oder nichts davon.

Beide warteten darauf, dass ihr Gegenüber etwas sagte. Es war keine angespannte Situation, denn Zeit spielte hier keine Rolle und so profane Gefühle wie Ungeduld oder Peinlich-berührt-Sein gab es nicht.

„Wie sind wir gestorben?", fragte Hermine schließlich.

„Das ist eine längere Geschichte."

„Ich denke, wir haben alle Zeit, die wir uns nehmen wollen", antwortete sie lächelnd und ging zu einer der Wartebänke.

Lucius nahm neben ihr Platz und begann ruhig seine Erzählung: „Nach unserem Streit habe ich mich nach Malfoy Manor zurückgezogen. Dass der Zauber seine Wirkung verloren hat, hat mir schwer zugesetzt und ich habe mich hinreißen lassen, großes Chaos anzurichten. Ich bin zwar nicht stolz darauf, aber ich muss zugeben, dass es mir danach besser ging. Ich war deswegen weitestgehend entspannt, als Harry mit zwei weiteren Auroren auf einmal in meinem Bad stand, die Zauberstäbe auf mich gerichtet. Der Tag war bis dahin schon verrückt genug, vielleicht habe ich mich deswegen darauf eingelassen, was mir vorgeschlagen wurde. Nachdem die beiden Begleiter den Raum verlassen hatten, hat Harry mir von einem Plan erzählt. Er wollte mich als Lockvogel und Spion zugleich in Azkaban einschleusen, um den Mörder des Werwolfs zu fassen. Er hatte einen Verdacht, aber die Gefängnisdirektorin stellte sich quer, da es sich dabei um eine ihrer Wachen handelte, und so musste er verdeckt vorgehen, um an sein Ziel zu kommen. Seine Vermutung war, dass es nicht bei diesem einen Mord bleiben sollte und mehrere Beteiligte von damals in Gefahr schwebten.

Er war überzeugt, dass ich ein zentrales Ziel war und dass er durch mich den Spieß umdrehen könnte. Mit Hilfe der Direktorin wurde ich also eingeschleust. Sie war damit einverstanden, den Fall auf diese Weise anzugehen, solange keine offizielle Untersuchung stattfand, die den Ruf der Einrichtung beschädigte. Meine Zelle wurde durch besondere Zauber geschützt, ein weiterer Mord wie am Großmeister sollte nicht noch einmal passieren. Seine Kehle war mit einem Dolch aufgeschlitzt worden und man hatte keinerlei nützliche Spuren an ihm oder der näheren Umgebung finden können. Eine nichtautorisierte Öffnung der Zelle wie diese hätte eigentlich einen Alarm auslösen müssen, sie standen also vor einem Rätsel. Ich hatte meinen Zauberstab und Harrys Tarnumhang in einem Versteck in meiner Zelle und konnte damit einen Fluchttunnel betreten, sollte es brenzlig werden. Sonst erging es mir jedoch wie allen anderen Insassen dort und schon die wenigen Stunden waren eine reine Qual.

Harry glaubte, dass er dich aus dem Fokus der Verschwörer ziehen würde, indem er mich ihnen vorsetzte. Ich habe ihm gleich widersprochen, da ich der Ansicht war, dass jeder, der ein Druckmittel sein könnte, grundsätzlich in Gefahr schwebte. Aber ich stimmte ihm schließlich zu, dass das Ganze einen Versuch wert war. Ich muss gestehen, dass mir zu diesem Zeitpunkt deine Sicherheit auch nicht sonderlich wichtig war. Sonst hätte ich dich nicht einfach so deinem Schicksal überlassen. Als Ginny mich später in Azkaban besuchte, habe ich versucht, mich so abweisend wie nötig zu verhalten, dass niemand auf den Gedanken kommen würde, sie wäre eine Freundin. Ich wollte sie nicht in Gefahr bringen."

„Es wundert mich, dass du sie noch immer als Freundin ansiehst", warf Hermine ein, „ist eure Freundschaft stärker, als es unsere Liebe war?"

„Ich musste sie zwar erst wieder finden, aber meine Liebe zu dir ist mit nichts zu vergleichen", sagte Lucius und nahm ihre Hand. Beide durchströmte augenblicklich eine Wärme, die die kaltweiße Welt um sie herum gleich etwas freundlicher scheinen ließ. Er fuhr fort: „Ginny hat mir von deinem Verschwinden berichtet und gleich am nächsten Morgen habe ich den Fluchtweg genutzt und bin ausgebrochen. Ich war wütend auf Harry, weil er dich so leichtfertig wider besseren Wissens gefährdet hat, und war entschlossen, dich zu finden."

Er berichtete Hermine von seinem Versuch, sie mit seinem Ehering aufzuspüren, davon dass er in ihren Geist eingedrungen war und dort nur Wirrwarr vorgefunden hatte, dass er beinahe die Hoffnung aufgegeben hätte, und dann doch noch Erinnerungsfetzen gesehen hatte. Er stockte, als er die einzelnen Bilder beschrieb, und sie wusste sofort, was ihn quälte.

„Es zerreißt mir das Herz, dass unser Kind mit uns an diesen Ort kommen musste", sagte sie leise, „ich hätte mir so sehr gewünscht, es mit dir zusammen aufwachsen zu sehen. Jetzt wird es niemals auf das Meer blicken oder den Wind auf der Haut spüren."

Eine einzelne Träne lief über ihre Wange und alles an ihr strahlte eine Traurigkeit aus, die Jedermanns Herz berührt hätte. Lucius drückte ihre Hand und auch er trauerte mit ihr. Hier, auf dem Bahnsteig in der Zwischenwelt, gab es keine Lügen und keine Geheimnisse, was beide instinktiv wussten. So sehr er noch vor kurzem an das Gegenteil geglaubt hatte, so sicher wusste er jetzt, dass Hermine tatsächlich sein Kind erwartete. Und ihre verschlungenen Hände, an denen sie beide ihren Ehering trugen, offenbarten ihnen die einfache Lösung. Das magische Sakrament, das sie empfangen hatten, als sie den Bund fürs Leben geschlossen hatten, hatte das Ritual unwirksam gemacht. Denn es hätte Lucius nur davor bewahrt, einen halbblütigen Bastard in die Welt zu setzen. Ein eheliches Kind war jedoch kein Bastard. Ohne es zu wissen, hatten sie ein Schlupfloch gefunden. Eine Hochzeit mit einer derart unwürdigen Braut war wohl für die Schöpfer des Rituals undenkbar gewesen.

„Bitte verzeih mir, dass ich an dir gezweifelt habe", sagte er und als Antwort legte sie ihren Kopf auf seine Schulter, „aber meine Zweifel hatten etwas Gutes an sich. Hätte ich in meiner Eifersucht nicht nach Ron gesucht, wäre ich nicht in die Winkelgasse gekommen und hätte nicht Draco vor dem brennenden Haus stehen sehen. Und dieses Mädchen hätte mir nicht verraten können, dass du in eine Schneekugel verwandelt worden bist."

Als er die Erzählung von seinem gescheiterten Rettungsversuch beendet hatte, schwiegen sie eine Weile. Hermine war gerührt davon, dass er sein Leben riskiert und es letztlich für sie gegeben hatte, aber sie fühlte sich hauptsächlich schuldig. Sie hätte nicht gewollt, dass er starb. Lucius wiederum fühlte sich schuldig, weil er versagt hatte und sie nicht hatte retten können. Ein lautes Pfeifen einer der beiden Dampfloks holte sie in den Moment zurück.

„Wie geht es weiter? In welchen Zug müssen wir jetzt einsteigen?", fragte Hermine.

„Sie scheinen in dieselbe Richtung zu fahren."

Hand in Hand gingen sie auf einen der beiden Züge zu. Obwohl es Waggons über Waggons gab, hatte der ganze Zug nur eine Tür. Hermine legte die Hand auf die Klinke, doch sie bewegte sich nicht. Als Lucius sie berührte, neigte sie sich sofort und gab ihm den Weg ins Abteil frei. Er stieg ein, doch als sie ihm folgen wollte, hielt sie eine unsichtbare Barriere zurück. Beiden wurde sofort klar, dass sie diesen letzten Weg wohl jeder für sich gehen mussten. Er trat noch einmal auf den Bahnsteig.

„Ich liebe dich. Daran hat sich eigentlich auch nie etwas geändert. Ich war nur zu blind, es gleich zu sehen", sagte er und nahm damit die letzten Worte auf, die Hermine ihm bei ihrem Besuch in Azkaban gesagt hatte.

Sie strich ihm lächelnd mit der Hand über die Wange und sagte: „Ich weiß."

Wohin diese letzte Reise ging, ob sie sich wiedersehen würden oder das jetzt das Ende war, wussten sie nicht. Aber sie ahnten, dass es keine Worte gab, die einem Abschied wie diesem gerecht werden konnten. Manchmal braucht es aber auch gar keine Worte. Lucius schloß Hermine in seine Arme und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Als sie sich aus ihrer Umarmung lösten, hielten sie sich noch einen Moment lang an ihren Händen und sahen sich in die Augen. Mit einem angedeuteten Nicken und einem Lächeln ließen sie los. Sie hatten alles gesagt, waren mit sich im Reinen und wussten, dass nicht viele diese Chance bekamen, bevor sie die letzte Reise antraten. Sie stiegen in ihre Züge und als kurz darauf zwei laute Pfiffe ertönten, setzten sie sich langsam in Bewegung.

Lumine III - FeuerprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt