06. August 2008 - Cottage an der Küste

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Nach einer viel zu kurzen Nacht saß Draco in der Küche des Cottages und rührte gedankenverloren in einer Tasse Tee. Beedy hatte nicht eine Minute mit ihrem Gejammer aufgehört, seit er aus dem Haus der Potters zurückgekehrt war. Er war inzwischen so davon zermürbt, dass er es gar nicht mehr wahrnahm. Die Phase, in der er jeden Moment zu explodieren drohte, hatte er schon vor Stunden hinter sich gelassen. Er wusste nicht, ob es an der Litanei der Hauselfe lag oder ob er neuerdings so etwas wie Sorge für andere Menschen empfand, aber er musste unentwegt daran denken, was mit Hermine passiert sein konnte. Er hatte Beedy nichts davon gesagt, weil sie ihn sonst nicht mehr in Ruhe lassen würde, aber er vermutete, dass er die Entführer oder die Entführung sogar gesehen hatte. Ihm war während seines Fluges mindestens eine Person bei dem Baum aufgefallen, an dem später Hermines Tasche gefunden worden war. So sehr er sich aber auch bemühte, er konnte sich an nichts erinnern, was ihnen helfen konnte. Er war einfach zu weit entfernt gewesen, um etwas genaues erkennen zu können. Und selbst wenn, er hätte dem Geschehen sicher keine größere Bedeutung beigemessen und es sich nicht eingeprägt.

„Und Ihr armer Vater sitzt unschuldig in Azkaban", erklang Beedys weinerliche Stimme neben ihm, als sie ihm eine Schüssel gebackener Bohnen vor die Nase stellte.

Draco fragte sich, warum eigentlich alle so davon überzeugt waren, dass sein Vater den Mord tatsächlich nicht begangen hatte, denn er selbst war sich da gar nicht so sicher. Ja, es muss schwer gewesen sein, den Großmeister des Rudels in seiner Zelle zu töten, doch irgendjemandem war es offenbar gelungen, warum also nicht ihm? Er glaubte es zwar auch nicht wirklich, aber er wollte bei seinen Überlegungen alle Möglichkeiten offen lassen. Nachdem er nun stundenlang darüber gegrübelt hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass er mehr über den Mord herausfinden musste. Für seinen Vater, aber auch für sich selbst. Er hasste es, wenn er mit ungelösten Geheimnissen konfrontiert wurde. Wo startete man in der Regel die Ermittlungen? Naturgemäß beim Opfer, denn wenn der Täter sich geschickt anstellte, gab es sonst nichts, womit man beginnen konnte. Gut, idealerweise fand man auch kein Opfer, aber das war nunmal nicht immer möglich. Also dann. Der Großmeister. Was wusste er eigentlich über ihn? Nicht allzu viel, wenn er genauer darüber nachdachte. Das wunderte ihn selbst, denn der Mann hatte es geschafft, ihm immer das Gefühl zu geben, ihn zu kennen. Und dass er ihm vertrauen konnte. Dass er in die Entscheidungen eingebunden wurde, die das Rudel betrafen. Aber dieser Werwolf war eben ein Meister seines Fachs. Ein Manipulator. Ein Gedankenhexer.

Draco dachte zurück an die Zeit in Frankreich, zu der er noch daran geglaubt hatte, dass sie wieder eine mehr oder weniger normale Familie werden konnten. Es war etwa ein Jahr nach der Schlacht um Hogwarts, sie waren ins Exil gegangen, wie es sein Vater mit dem Zaubereiministerium ausgehandelt hatte, und hatten einige surreal schöne Monate am Meer erlebt. Das Gefühl, frei zu sein, das unfassbare Glück, noch am Leben zu sein, hatte sie regelrecht euphorisiert und in schwindelerregende Höhen katapultiert. Der Fall war dann freilich um so schmerzhafter und tiefer gewesen. Das Hochgefühl war verschwunden und alter Frust, lange unterdrückte Wut und Verachtung hatten stattdessen den Platz eingenommen.

Irgendwann in dieser Zeit war der Großmeister auf der Bildfläche erschienen. Er war zuerst nur ein Bekannter seines Vaters gewesen, der ihn eines Abends in einem Bistro getroffen hatte. Die beiden hatten sich anfangs regelmäßig auf ein Glas Wein verabredet und nach ein paar Wochen hatte Lucius seinen neuen Kompagnon mit nach Hause gebracht und ihnen vorgestellt. Ein eleganter Mann mit grauen Schläfen und einem präzise gewachsten Schnurrbart, immer das passende Wort und ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen, galante Umgangsformen, ein gefährliches Blitzen in den Augen, wenn man zu lange hineinsah - so trat er in ihr Leben.
Draco fragte sich, wann genau der Franzose damit begonnen hatte, sie zu manipulieren, es musste bald nach dem ersten Dinner bei ihnen zu Hause gewesen sein, denn allzu schnell hatte er sich seinen festen Platz in ihrem Alltag ergaunert. Narzissa hatte offensichtlich großen Gefallen an dem Mann gefunden, der sie unverhohlen hofierte, was jedem außer Lucius bewusst war, der verblüffend blind in dieser Hinsicht war. Da Draco zu diesem Zeitpunkt noch nie von Hypnokratie gehört hatte, hatte er einfach gedacht, dass es seinen Vater nicht interessierte, mit wem sich Narzissa einließ. Wenn er heute darüber nachdachte, war es weitaus wahrscheinlicher, dass Lucius bereits damals unter dem Einfluss des Werwolfs stand, denn sonst hätte er es sich bestimmt nicht gefallen lassen, so gehörnt zu werden.

Doch es war etwas anderes, das ihn gerade bedrückte. Etwa ein Jahr, nachdem der Mann, der sich damals noch Henry Chabot nannte, angefangen hatte, bei ihnen ein und aus zu gehen, veränderte sich Dracos Leben für immer. Seine Mutter hatte ihn überredet, sie und ihren Liebhaber auf einem nächtlichen Spaziergang zu begleiten. Er hatte keine große Lust gehabt, den beiden beim Turteln zuzusehen, und wollte auch nicht das fünfte Rad am Wagen sein, doch sie ließen nicht locker und er fügte sich schließlich. Bisher hatte er sich nicht an diesen Abend zurückerinnert, bisher waren seine Gedanken wohl auch nicht frei gewesen. Unbemerkt hatte sich der Großmeister seinen Weg auch in Dracos Kopf gebahnt und hatte ihn bis zu seinem Tod besetzt gehalten. Es war ausgeschlossen, dass ihm sonst die Umstände nicht schon früher klar geworden wären. Er schloss die Augen und sah es deutlich vor sich.

Narzissa und ihr Verehrer gingen Hand in Hand ein Stückchen vor ihm her. Er zupfte wahllos Pflanzenteile vom Wegesrand und zerrieb sie zwischen seinen Fingern. Es war ein lauer Sommerabend, den ganzen Tag lang hatten sie geschwitzt und den Schatten gesucht, jetzt war es endlich angenehm. Eine sanfte Brise ließ die alten Maulbeerbäume langsam vor und zurück wiegen und leise rauschen. Es war friedlich und romantisch, die Grillen zirpten und ein paar Vögel zwitscherten ihr letztes Lied für diesen Tag. Er hatte nichts auf diesem Spaziergang bei Mondschein verloren und ärgerte sich darüber, dass er sich hatte überreden lassen. Das Paar flüsterte angeregt miteinander und der Franzose hob Narzissas Hand an den Mund, um sie zu küssen. Draco entschied, dass er sich einfach davonstehlen würde. Er verlangsamte seine Schritte noch ein wenig und wartete darauf, dass die beiden weit genug weg waren. Sie schienen ohnehin zu sehr miteinander beschäftigt, als dass es ihnen auffallen würde. Auf einmal blieben sie jedoch stehen und blickten in Richtung einer Anhöhe, hinter der sich gerade der volle Mond in seiner ganzen Pracht zu präsentieren begann.

Als Draco sah, was dann geschah, wollte er schreien, seinen Zauberstab zücken, sich schützen oder seine Mutter packen und in Sicherheit apparieren. Doch alles was er tun konnte, war mit weit aufgerissenen Augen zu beobachten, wie aus dem französischen Lebemann eine monströse Kreatur wurde. Es dauerte nur wenige Augenblicke und der übergroße Wolf mit langem, gepflegtem grauen Fell stand ganz ruhig da. Entspannt geradezu. Und Narzissa war nicht einen Schritt ängstlich zurückgewichen, nein, sie hatte geduldig gewartet, bis die Verwandlung vollzogen war und kraulte den großen Wolf nun hinter den Ohren, wie einen Schoßhund, als wäre es das normalste der Welt, dass ihr Liebhaber auf einmal zu einer Bestie geworden war. Zu Dracos größtem Entsetzen wand sich der Werwolf um, setzte sich auf seine Hinterläufe und fixierte ihn durchdringend und kompromisslos. Einen Ausweg gab es nicht. Er konnte ihm nicht entkommen. Und, das wurde ihm nun klar, er wollte ihm auch gar nicht entkommen.

„Komm zu mir, Draco Lucius Malfoy. Du wirst der Erste sein. Der Erste von vielen. Der Erste des Rudels, das ich um mich scharen werde. Und du wirst deinen Platz finden."

Narzissa stand noch immer mit dem Rücken zu ihm da und schien kaum wahrzunehmen, was um sie herum geschah.

„Komm zu mir", wiederholte der graue Wolf und Draco gehorchte ihm. Und als ob er sein Leben lang auf diesen Moment vorbereitet worden wäre, wusste er, was von ihm verlangt wurde, wusste er, was zu tun war, und gab er sich ohne Zögern seiner Bestimmung hin.



Lumine III - FeuerprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt