06. August 2008 - Azkaban

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Der Wärter hatte die Gelegenheit genutzt, um ihm noch eine kleine Abreibung zu verpassen, bevor er ihn wieder in die Zelle gesteckt hatte. Dieser schnauzbärtige Kerl hatte es auf ihn abgesehen, das war ihm von der ersten Sekunde, in der er unter seiner Fuchtel stand, klar gewesen. Vermutlich hatte er Verwandte oder Freunde im Krieg verloren und freute sich darüber, einen weiteren Todesser dafür bestrafen zu können. Es tat Lucius mehr leid, dass er Ginny angespuckt und verunsichert hatte, als ihn die Bestrafung schmerzte. Mit körperlichen Schmerzen konnte er umgehen, da hatte er schon ganz andere Erfahrungen gemacht. Verbittert dachte er an seinen letzten Aufenthalt in Azkaban zurück, dem er die unschönen Narben auf seinem Rücken zu verdanken hatte. Evan Rosier, den er seit ihren gemeinsamen Kindertagen gekannt hatte, hätte ihn damals beinahe getötet. Machmal fragte er sich, ob er außer Joan und Ginny jemals echte Freunde gehabt hatte. Und außer Hermine, hörte er eine leise Stimme weit hinten in seinem Kopf, und das erste Mal, seit der Zauber gebrochen war, ließ er den Gedanken zu.

Ja, sie war muggelstämmig, ja, sie war unerträglich besserwisserisch und ja, sie war genau so verbohrt und draufgängerisch, wie alle anderen Gryffindors, die er kannte. Aber sie war auch gütig und freundlich, ehrgeizig und zielstrebig, unnachgiebig, mutig, mitfühlend, stolz, hilfsbereit und wissbegierig. Manche Eigenschaften würden anderen vielleicht lästig erscheinen, wie ihr Drang, immer und überall die Beste zu sein und so viel Wissen anzusammeln, wie es ihr möglich war, doch genau das mochte er so an ihr und das konnte er nicht leugnen. Andere Charakterzüge, die ihm sein Leben lang unwichtig oder sogar zuwider gewesen waren, wie ihre tiefe Empathie für alle magischen und nichtmagischen Kreaturen, lösten inzwischen Respekt bei ihm aus.

Das war es, was er für Hermine vor allem anderen empfand. Respekt. Sie wich keinen Millimeter von ihrer Linie ab, um anderen vielleicht etwas besser zu gefallen oder um in eine Schublade zu passen, in die man sie stecken wollte. Sie stand zu ihren Überzeugungen und es war ihr gleich, ob man sie deswegen belächelte oder bewunderte. Sie setzte sich durch, indem sie ruhig argumentierte und ihren Standpunkt vertrat und indem sie mit beiden Fäusten auf den Tisch haute, falls das einmal nötig sein sollte. Sie kannte seine Vergangenheit und vertraute ihm dennoch blind. In seiner Welt war das fremd. In seiner Welt konnte man niemandem vertrauen. Niemandem. Da lächelte man sich falsch ins Gesicht, während man hinter dem Rücken bereits das Giftfläschchen entkorkte. Alles, was in seiner Welt zählte, war die Herkunft. Das war, worauf man stolz zu sein hatte. Nicht, was man wusste, was man erreichte, was man hatte, nein, wessen Kind man war, das war wichtig. War es nicht bezeichnend, dass sein Vater der Mann war, den er vor allen anderen am meisten verabscheute, und dennoch der Stolz, seinen Namen und den seiner Vorväter tragen zu dürfen, lange Zeit das einzige war, das ihn in seinem Leben angetrieben hatte?

Joan hatte für ein paar Jahre seinen Fokus auf andere Dinge gerichtet, hatte ihn verweichlicht, wie sein Vater immer wieder festgestellt hatte. Und doch war die kurze Zeit mit ihr die eine Phase seines Lebens, in der er echtes Glück empfunden hatte. Natürlich war auch sein späteres Leben gut gewesen. Macht, Einfluss, Geld, eine Frau, die ihn liebte, und Draco, auf den er um ein vielfaches stolzer war, als er ihm jemals gezeigt hatte. Es war jedoch nie so, wie die kurze Zeit mit Joan, die viel zu früh gestorben war. Die seinetwegen gestorben war.

Bis vor ein paar Jahren hatte er geglaubt, dass sie nur eine von zu vielen Toten auf dem Weg des Dunklen Lords an die ultimative Macht gewesen ist. Dass sie als eine der ersten den Extremisten unter seinen Anhängern zum Opfer gefallen ist, denen, die von Anfang an nur das radikale Ausmerzen der nicht reinblütigen Zauberer zum Ziel hatten und die sich letztlich durchsetzten. Lucius war einer derjenigen, die diesen Weg für falsch gehalten hatten, die den Muggelstämmigen den Zugang nach Hogwarts, in hohe Ämter des Ministeriums und in die eingeschworene Gemeinschaft der echten Magier, wie sie es nannten, verwehren, sie aber dennoch als Zauberer und Hexen zweiter Klasse erhalten wollten. Wie Squibs sollten sie auf eigene Schulen gehen, wo sie niedere Magie lernen würden, damit sie nicht unkontrolliert stärker und gefährlich werden konnten. Sie zu eliminieren, war in ihren Augen unnötig und falsch. Nach und nach wurde natürlich offensichtlich, dass der Dunkle Lord über Leichen gehen wollte, dass er sogar Gefallen daran fand. Zu diesem Zeitpunkt war es für einen Rückzug aus der Gemeinschaft schon zu spät und Joans Tod war längst kein tragischer Einzelfall mehr.

Doch sie war eben nicht einfach ein Opfer unter Tausenden. Ihr Tod war persönlich gewesen. Ein Racheakt. Bellatrix, diese Vettel, hatte es ihm nach so vielen Jahren in allen grausigen Einzelheiten erzählt, als sie zusammen in Malfoy Manor eingesperrt waren. Sie hatte sie in seinem Namen in eine Falle gelockt, sie gefoltert und ihr keinen schnellen Tod durch einen Fluch gegönnt, sondern ihr quälend langsam das Leben entzogen, immer darauf bedacht, dass ihr Opfer nicht ohnmächtig wurde, sondern bei vollem Bewusstsein war. Sie hatte ihr nach und nach Finger, Zehen, Arme und Beine, jede Rippe einzeln gebrochen, ihre Wangen durchbohrt, ihre Haare in Brand gesteckt, ihre Zunge herausgerissen, und schließlich ihren geschundenen Körper mit Wunden übersät, die jede für sich nicht tödlich waren, sie jedoch langsam ausbluten ließen. Und Joan war in dem Glauben gestorben, dass Lucius sie verraten hatte.

Sein Magen zog sich zusammen und bevor er reagieren konnte, erbrach er sich. Die Vorstellung, wie Bellatrix diesen wunderbaren Menschen auf so barbarische Weise umbrachte, hatte sich vor seinem inneren Auge allzu detailreich abgespielt. Und warum war es soweit gekommen? Aus Eifersucht natürlich. Sie hatte Joan getötet und nicht etwa weil sie ein Halbblut war, sondern weil er sich in sie verliebt hatte. Er hatte immer gewusst, dass er eine der Black-Schwestern zur Frau bekommen würde. So war es vorbestimmt gewesen und so würde es geschehen. Eigentlich hätte es Andromeda sein sollen, doch nachdem sie mit Ted Tonks durchgebrannt war, und Bellatrix bereits verheiratet war, blieb noch Narzissa, die von der Vorstellung, Mrs. Malfoy zu werden, schon lange mehr als verzückt war. Es war ihm nicht entgangen, dass sie ihn von jeher anhimmelte, er empfand seinerseits nichts für sie. Er hatte nichts gegen sie, das nicht, sie war ihm einfach gleichgültig. Und so wenig sie einen Hehl aus ihrer Bewunderung machte, machte er einen aus seinem Desinteresse. Vielleicht hätte er es wissen müssen. Er hätte vorsichtiger sein müssen. Doch Narzissa hatte nicht nur seinen ersten Kuss mit Joan auf dem Schlossgelände beobachtet, wohin sie nach seiner abwehrenden Bemerkung über das Quidditchtraining geflüchtet war, nein, sie hatte unbemerkt fast jeden ihrer gemeinsamen Schritte verfolgt. Keines der zahlreichen geheimen Treffen war ihr entgangen und sie hatte penibel darüber Buch geführt und ihre Verzweiflung dadurch immer weiter genährt, bis sie es schließlich nicht mehr ausgehalten und ihre Schwester um Hilfe gebeten hatte. Und Bellatrix, die Lucius noch nie besonders gut leiden konnte, womöglich weil sie wusste, dass er das Herz ihrer Schwester brechen könnte, nahm sich der Sache an. Auf ihre grausame, gnadenlose Art und Weise half sie Narzissa und befreite sie von der Konkurrentin im Kampf um sein Herz.
Nach Joans Tod, den er bis zu Bellatrix Offenbarung nie mit ihr oder seiner Frau in Verbindung gebracht hatte, hatte Lucius weder die Kraft noch den Willen gehabt, um sich der Anordnung seines Vaters zu widersetzen, und nachdem Narzissa Hogwarts absolviert hatte, hatten sie geheiratet. Wenn er so zurückdachte, fragte er sich, ob er sie jemals geliebt hatte. Jedenfalls nicht so, wie er Joan geliebt hatte oder wie er Hermine liebte. Es hatte eine Zeit gedauert, bis sie überhaupt einen Weg zueinander gefunden hatten. Das war auch der Grund, warum Draco erst einige Zeit nach ihrer Hochzeit auf die Welt kam und keine Geschwister hatte. Sie waren über die Jahre ein eingespieltes Team geworden, hatten sich unterstützt, sich gegenseitig den Rücken gestärkt, waren auch in den schweren Zeiten füreinander da gewesen, hätten für ihren Sohn alles getan. Also ja. Er hatte sie geliebt. Aber nie auf eine romantische Weise, sondern eher pragmatisch und freundschaftlich. Ja, Freundschaft. Das Leben ist eben nicht schwarz-weiß, Lucius, ermahnte er sich. Narzissa war über die Jahre eine Freundin für ihn gewesen. Er hatte lange und echt um sie getrauert, obwohl er damals schon wusste, dass sie für Joans Tod mitverantwortlich war, und er vermisste sie. Sie war die längste Zeit seines Lebens an seiner Seite gewesen und abgesehen von den letzten Jahren, in denen sie dem für ihre Familie typischen Wahnsinn verfallen war, hätte er sich keine loyalere Gefährtin wünschen können.

Seine Gedanken kehrten ein paar Momente zurück. Oder wie er Hermine liebte. Er zog die weißgoldene Taschenuhr unter seinem löchrigen Kopfkissen hervor und klappte sie auf. Sie war kein magischer Gegenstand, daher war sie den Wachen auch nicht aufgefallen, als er sie nach Hermines Besuch zurück in die Zelle geschmuggelt hatte. Er betrachtete lächelnd ihr strahlendes Gesicht. Das Schicksal war unergründlich, denn es hatte ihn gegen seinen Willen mit dieser wundervollen Frau beschenkt. Er musste nun langsam über seinen übergroßen Schatten springen, wie Ginny gesagt hatte, und zu ihr stehen. Sie war seine zweite Chance. Die zweite Chance, es besser zu machen, mutiger und endlich er selbst und dabei glücklich zu sein. Dass Hermine vermisst wurde, änderte alles. Er musste hier raus und etwas tun. Zum Bergtroll mit Potter und seinem Plan, der ja offensichtlich alles andere als großartig funktionierte.


Lumine III - FeuerprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt