Kapitel 49

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Nachdem Special Agent Andrew Roberts gegangen war, hatte sich der Mann, dem ich bereits vorhin vor der Tür begegnet war, vorgestellt. Sein Name war FBI Special Agent William Bennett. Er würde uns zu dem sogenannten Safehouse begleiten. Offenbar hatte Agent Roberts schon alles vorbereitet, denn Agent Bennett wies uns an, geradewegs aus dem MCC, dem Metropolitan Correctional Center, hinauszugehen, und niemand hinderte uns daran. Die Luft war kühl geworden durch das gestrige Gewitter, aber der Himmel war strahlend blau und so klar, dass ich mich kaum an ihm sattsehen konnte. Vielleicht war es aber auch die Freiheit, die mich so vereinnahmte und diesen Tag für mich unvergesslich machte.

An der Straße parkte ein großer, schwarzer Wagen mit getönten Scheiben. Der Fahrer wartete, bis Agent Bennett vorne und Noah und ich hinten eingestiegen waren. Dann ging es los. Quer durch Chicago, an Wolkenkratzern mit Glasfronten vorbei, in denen sich der Himmel spiegelte und vorbei an Restaurants und verschiedenste Läden, die sich zu beiden Seiten tummelten. Grüne Bäume tauchten in meinen Augenwinkeln auf und verflogen so schnell wie die Radfahrer auf der Fahrbahn und die herumlaufenden Menschen, die ich sah.

Nach etwa einer halben Stunde kündigte Agent Bennett an, dass es keine zehn Minuten mehr bis zum Treffpunkt dauern würde. Die Hochhäuser lagen nun weit hinter uns. Tiefgrüne Wiesen und braune Felder säumten die Straße.

An einer entlegenen Ortschaft hielt der Fahrer und wendete, als wir ausgestiegen waren. Der schwarze Wagen wirkte fehl am Platz und hätte sicherlich mehr Aufmerksamkeit erregt, würden in diesem Ort mehr Leute wohnen. Agent Bennett machte eine wegweisende Handbewegung. Ich folgte dieser mit den Augen und entdeckte ein kleines Haus, umrandet von Bäumen mit grünem Laub und hohen Tannen. Die Veranda war schlicht weiß, ebenso die Sprossenfenster im Erdgeschoss und in der Dachgaube. Die Schindeln des Daches waren grau und die Bretter an der Fassade waren in einem hellen Pastellton, einem erfrischenden Grün gestrichen.

Agent Bennett fasste in die Taschen seines Jacketts und holte eine Schnur heraus, an der etwas silbernes baumelte. »Dies ist der Schlüssel. Agent Roberts kümmert sich um die Freilassung Ihrer Freunde und wird sich anschließend hier mit Ihnen treffen.«

»Danke.«, sagte ich.

Noah nahm den Schlüssel entgegen.

Agent Bennett trat einen Schritt zurück, um Noah und mich vorgehen zu lassen. Noah zögerte einen Moment. Seine Augen schweiften suchend über das Grundstück, das Haus und bis hinauf zur Dachgaube, als suchte er nach einem Fehler an diesem Deal.

»Ich will Sie nicht drängeln, aber es wäre vorteilhaft, würden Sie sich nun zurückziehen, bevor uns noch jemand sieht.«, sagte Agent Bennett leise, jedoch bestimmt.

Noah runzelte die Stirn. Er wartete eine Sekunde ab, ehe er sich in Bewegung setzte und mit dem Schlüssel in der Hand auf die Veranda zusteuerte. Ich folgte ihm den Weg entlang und die Treppenstufen zur Veranda hinauf. Vor der Haustür drehte ich mich noch einmal um. Agent Bennett hielt sein Handy in der Hand und telefonierte. Seine Mimik war nicht sonderlich besorgniserregend. Er wirkte ruhig und gestikulierte kaum. Unweigerlich fühlte ich Misstrauen.

»Julie« Noah riss mich aus meinen Gedanken. Ich wandte mich ihm wieder zu und trat durch die braune Haustür mit dem weißen Rahmen.

Noah verschloss die Tür hinter mir. Trotzdem blieb er an dieser Stelle stehen. Sein Blick ging durch die Scheibe hindurch zur Straße, wo Agent Bennett noch immer stand und telefonierte.

Ich schaute mich im Wohnzimmer um. Helle Vorhänge hingen neben den schmalen Fenstern. Eine cremefarbene Couch stand im Raum, mit dem Rücken zur Haustür und dem Kamin zugewandt. Daneben befand sich ein brauner Ohrensessel und auf dem Parkettboden lag ein dezent und in hellen Tönen gemusterter Teppich.

Langsam ging ich zur Treppe, die nur zwei Schritte vom Sofa entfernt war. Das weiße Geländer führte um die Ecke. Ich stieg auf die erste Stufe und blickte zurück zu Noah im Wohnzimmer, rechts, und zur Küche, links. Die Fronten der Küchenzeile waren im Landhausstil gehalten, die Kücheninsel und die restliche Fläche waren mit einer grauen Arbeitsplatte ausgelegt. Es war alles eher klein hier, dafür aber sehr gemütlich.

Oben befanden sich zwei weitere, fast schon winzige Schlafzimmer mit Doppelbetten, die beinahe den ganzen Raum ausfüllten.

Als ich wieder herunterkam, lehnte Noah an der Kücheninsel.

»Du hast das mit Miles und Jake gut hingekriegt.«, sagte ich und stieg die letzte Treppenstufe hinab. Meine Hand rutschte vom Geländer und Noah richtete reflexartig seine Augen auf mich. Wahrscheinlich war er in Gedanken vollkommen woanders gewesen.

Ich lief die letzten Schritte auf ihn zu. Er streckte seine Hände aus und ich verschränkte unsere Finger miteinander.

»Geht es dir gut?«, fragte ich.

»Du tust mir gut.«, raunte er und legte eine Hand an meine Wange. Ich ließ meine Augen zu unseren noch auf einer Seite verschränkten Händen wandern und schließlich wieder seinen Körper hinauf. Noah senkte das Kinn und unsere Blicke fanden sich. Anfangs hatte er seine Fassade aufrecht erhalten können. Er hatte es geschafft, gleichgültig und kalt, vom Schmerz abgestumpft zu wirken. Jetzt erkannte ich, dass aus eben diesem Jungen, den ich zu Beginn dieses Abenteuers kennengelernt hatte, ein starker, junger Mann geworden war. Klug, beschützend, liebevoll.

»Meinst du, wir haben noch etwas Zeit, bis die anderen hier auftauchen?« Ich lächelte Noah an.

»Du meinst, falls sie überhaupt kommen?«, entgegnete er und seine Stimme klang besorgt.

»Das werden sie.«, sagte ich bestärkend. »Lass uns positiv denken.«

Noahs Hand wanderte an meinem Ohr entlang zu meinem Hinterkopf. Beinahe andächtig sah er mich an. Seine Augen glänzten und seine Gesichtszüge waren ganz weich. Sanft berührte er meinen Nacken. Auf meinem Körper bildete sich eine Gänsehaut und die Schmetterlinge in meinem Bauch flatterten wie verrückt.

Plötzlich hielt Noah inne. »Vielleicht haben sie uns weggelockt, um uns eine Kugel in die Brust zu jagen.«

»Es ist merkwürdig, dass du in dieser intimen Situation über Kugeln in deiner Brust nachdenkst.« Meine Knie waren so weich, dass ich das Gefühl hatte, keine Sekunde länger aufrecht stehen zu können.

»Du hast recht.« Noah lachte. Gott, er hatte so ein wunderschönes Lachen. Ich wünschte, ich könnte ihn immer in solch beängstigenden Momenten lachen hören. Es war, als nähme er damit all die Last von mir.

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