Kapitel 55

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In der Küche lehnte ich mich an die Theke. Miles blieb im Raum stehen. Zögernd sah er mich an, ehe er in seine Hosentasche fasste und ein Stück Papier herauszog. Erst bei näherem Betrachten erkannte ich, worum es sich dabei handelte. Es war das Foto von Noah als Kind. Breit grinsend zeigte er uns seine weißen Zähne und das dunkle Haar fiel ihm wie auch heute noch in die Stirn.

»Woher hast du das?«, flüsterte ich erschrocken und blickte über die Schulter zu Noah und Jake ins Wohnzimmer. Sie waren so vertieft in ihre Arbeit, dass sie unser Fehlen kaum bemerkten.

»Das war in einem der Kartons. Weißt du, wo es herkommt?«, fragte Miles.

»Ich habe es eingesteckt, als wir beim Haus seines Onkels waren.«, gab ich zu.

Miles sah mich entgeistert an.

»Es hing am Kühlschrank, ich habe es in meine Hosentasche gesteckt. Wahrscheinlich hat Agent Roberts es bekommen, als sie meine alte Kleidung weggeschmissen haben.«, erklärte ich schulterzuckend.

»Wieso hast du es eingesteckt?«, wollte Miles wissen.

Perplex hielt ich inne. Er verzog keine Miene.

»Das Foto ist schön. Ich wollte es Noah geben.«, verteidigte ich mich und verdrehte die Augen. »Wo ist das Problem, Miles?«

Ärgerlich verschränkte er die Arme vor der Brust.

»Du wirst als einzige von uns in jedem Fall wieder in Freiheit leben können.«, sagte er.

Ich zog die Brauen zusammen. Verwirrt guckte ich Miles an, denn ich konnte mir nicht erklären, was genau ihn so wütend machte. Oder was er von mir hören wollte. Ich war nicht auf Streit aus, also bemühte ich mich, möglichst ruhig zu bleiben.

»Es war nicht meine Entscheidung, hier irgendwelche Deals auszuhandeln. Jedenfalls nicht um meinetwillen.«, stellte ich klar.

»Ich weiß, und-« Miles stockte und sein Blick huschte zu Noah und Jake.

»Und was?«, wollte ich wissen, ohne mich auch nur ein einziges Mal umzuschauen.

Miles dachte kurz nach. »Und wir wissen beide, dass Noah nur das Beste für dich will.«

Irgendwie wirkte er nicht gänzlich überzeugt. Zweifelte Miles etwa daran, dass Noah diese Abmachung bloß aus Gutherzigkeit getroffen hatte? Mein Magen schmerzte und ich betete innerlich dafür, dass sich alles aufklären würde.

»Machst du dir jetzt Sorgen?«, entfuhr es Miles wenige Sekunden später. »Das war nicht meine Absicht. Wir sind dir nicht böse wegen des Deals. Jeder hätte ihn angenommen, und so wie Noah sich reinhängt, werden wir es schon schaffen.«

Ich atmete tief ein. »Miles, ich bin mir nicht sicher, ob wir es schaffen werden. Ich weiß, dass ich mir keine Sorgen machen sollte. Noah hat mir quasi einen Freifahrtschein besorgt und das war echt nett gemeint, weil er wusste, ich will zurück zu meiner Familie und nach Harvard, aber ich glaube- Nein, ich bin der festen Überzeugung, dass er sich im Moment zu viel zumutet. Das kann nicht gut gehen.«

Miles öffnete den Mund. Dann ließ er ihn wortlos wieder zufallen und starrte mich Gedankenverloren an. Plötzlich war der verflogene Ärger wieder da, und diesmal schlimmer als zuvor.

»Hast du gerade Harvard gesagt?«, fragte er mit erstickender Stimme.

Ich nickte verwirrt.

»Harvard, die Uni bei Boston?«

»In Cambridge.«, ergänzte ich, obwohl es das ganze auch nicht wesentlich besser machte.

Miles fuhr sich durchs Haar.

»Weiß Noah davon?«, wollte er als nächstes wissen.

»Ja.«, sagte ich und klang ein wenig entrüstet darüber, dass Miles tatsächlich denken konnte, ich würde Noah in solche Dinge nicht einweihen. Andererseits wusste Noah auch noch nicht, dass meine Mum an Krebs erkrankt war oder welche Lieblingsfarbe ich hatte. Dazu waren wir einfach noch nicht gekommen.

»Gott, Julie«, murmelte Miles. »Ich habe dich gewarnt. Ich habe dir gesagt, dass du ihn beeinflusst und er sich für dich ändert! Du wusstest es!«

»Wieso interessiert dich das mit Harvard so sehr?«, fuhr ich ihn an. Meine Stimme zitterte plötzlich.

»Hast du nicht aufgepasst?« Miles fluchte, bevor er schließlich fortfuhr. »Du kannst Noah nicht versprechen, nicht zu gehen und für ihn da zu sein. Er verlässt sich auf dich, er öffnet sich, verdammt nochmal, und du haust ab an irgendeine Universität, die in einem anderen Bundesstaat liegt!«

Schlagartig spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner linken Brust. Alles drehte sich. Ich blickte zu Noah, der noch immer irgendetwas auf dem Bauplan notierte und sich zwischendurch mit Jake darüber austauschte. Dann hob er seinen Kopf und unsere Augen fanden sich, als gäbe es für sie nichts anderes auf dieser Welt. Er lächelte mich an und löste eine ungeahnte Welle der Trauer in mir aus. Ich zwang mich dazu, sein Lächeln zu erwidern, aber war kaum noch dazu fähig, denn in meinem Kopf waren bloß Miles Worte.

Harvard, die Uni bei Boston?

Mehrfach hatte ich Noahs Kälte abgekriegt. Und zwar mit voller Wucht. Ich hatte das Gefühl gehabt, seine geschwundene und kaputte Seele in den Händen zu halten, und nun, mit all meiner Naivität, zerquetschte ich sie ohne überhaupt darüber nachzudenken, was ich gerade anrichtete. Alles hatte so perfekt gewirkt, aber wir hatten uns die ganze Zeit über etwas vorgemacht und waren wie kleine Kinder davon ausgegangen, es würde schon alles gut werden, in dem wir uns an unseren Träumen festkrallten. Nun kam mir Noahs Erleichterung darüber, dass er mir meine Ziele nicht zerstört hatte, geheuchelt vor.

Entsetzt sah ich Miles an. »Noah hat sich so gefreut, als ich behauptet habe, die Zeit mit ihm hätte mir meine Zukunftspläne nicht zerstört.«

»Es hat ihn gefreut.« Miles blickte zu Noah.

Ich tat es ihm gleich.

»Aber warum sollte ich dann nicht gehen können?«, fragte ich leise.

Miles schwieg.

»Es ist alles so widersprüchlich.«, beschwerte ich mich und hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft. »Entweder freut er sich oder nicht. Ganz einfach.«

»Er freut sich.«, beharrte Miles. »Ich meine, er ist erwachsen und er weiß schon, was er tut. Darum geht es nicht.«

»Worum geht es da-« Ich stoppte.

Und dann traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Das sich Noah freute, mochte sein. Es konnte sogar sehr gut sein, dass er sich extrem freute und mich überhaupt nicht angelogen hatte. Doch letztendlich würde ich unsere Beziehung sabotieren. Nicht nur seine Seele zerquetschen und uns beide durch die Hölle jagen, sondern ihm sämtliches Vertrauen, das er durch mich zurückerlangt hatte, wieder entziehen. Wir würden uns nicht mehr so häufig sehen können, und ich würde mein Versprechen brechen. Er würde wieder verlassen werden. So wie immer.

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt