Der seichte Wind wehte mir die Haare aus der Stirn, als ich meinen Entschluss fasste. Es würde keine Entscheidung für immer sein, wegzulaufen. Nur so lange, bis sich die Lage wieder beruhigt hatte. Etwas anderes kam partout nicht infrage.
»Also?« Erwartungsvoll sah ich den Mann, meinen ›Komplizen‹, an. Blätter raschelten in einiger Entfernung im Dickicht.
»Wir sollten—« Er stockte, kaum, dass ich den Zeigefinger an die Lippen gelegt hatte. Seine Gesichtszüge verhärteten sich vor Anspannung, und ich horchte in die Tiefen des Waldes hinein. Da war doch etwas gewesen. Konzentriert trat ich rückwärts, dem Geräusch von durchbrechenden, kleinen Zweigen unter den Sohlen von irgendjemandes Schuhen folgend. Ein kontrolliertes Pfeifen mischte sich unter das wilde Zwitschern der Vögel, die einen Moment innehielten, um dem Fremden und seinen Klängen, zu lauschen. Ich drehte mich einmal um mich selbst. Woher kam dieses Pfeifen? Von rechts? Von links?
»Was suchst du?«, wollte der Mann wissen und lehnte sich wartend gegen den Geländewagen. Das es ihm nicht darum ging, möglichst entspannt auszusehen, war mir längst bewusst. Vermutlich war dies die einzige Position, wie er über längere Zeit einigermaßen aufrecht stehen konnte. Glassplitter hatten sich bei dem Unfall in seine Haut gebohrt und die Platzwunde in seinem Gesicht aus makelloser, mittlerweile weniger blasser Haut wirkte ebenso besorgniserregend.
»Das Pfeifen.« Ich deutete in die Richtung, aus der ich das Pfeifen jetzt näher kommen hörte. »Das sind nicht die Vögel. Das ist irgendetwas anderes.«
»Warum sagst du das erst jetzt?«, fuhr er mich an. Unruhig drehte er sich um und griff blitzschnell nach der Waffe, die er auf dem Autodach abgelegt hatte. Ich packte meine Tasche an den abgenutzten Griffen und trat ein paar Schritte von ihm weg.
»Wir müssen hier verschwinden.« Er humpelte zum See. »Ist der tief?«
»Es muss noch eine andere Möglichkeit geben«, sagte ich hilflos.
Mein Gegenüber schenkte mir einen genervten Blick.
»Mach, was du willst.«, brummte er mürrisch und tat, als würde er seinen Plan alleine durchziehen.
»Hör zu: Ich darf in den Nachrichten nicht als Flüchtige gezeigt werden! Dann kann ich die Uni vergessen!« Ich wollte ein paar Schritte vorwärts machen, als das Pfeifen wieder ertönte.
Während er also den See musterte, und versuchte, die Tiefe irgendwie abzuschätzen, schaute ich mich unglücklich nach dem pfeifenden Etwas um. Und tatsächlich! Ein älterer Mann mit mausgrauen Haaren und Brille tauchte aus dem Gebüsch auf. Er stützte sich an einem Stock ab, doch als sein Blick auf den Geländewagen und auch auf mich fiel, begann er schnellstmöglich eins und eins zusammenzuzählen. Seine Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen wie die eines Raubtieres auf Jagd nach Beute. Die blutigen Stellen, die ich an meiner Stirn und meiner Wange fühlen konnte, lieferten ihm offensichtlich die letzten, fehlenden Antworten. Jetzt stand fest, dass ich nicht das Auto gefunden und es mir bloß angesehen hatte. Er wusste, ich hatte darin gesessen. Zum ersten Mal spürte ich, wie sich alles in mir zusammenzog und schrie: ›Renn!‹. Die lauernde Gefahr ließ mich schwer schlucken.
Ich musste versuchen, größere Probleme abzuwenden, aber der Mann umfasste bloß seine Gehstütze fester, als wollte er mich jeden Moment damit verhauen. Seine Haut bekam noch mehr Falten als ohnehin schon und ich umklammerte die Griffe meiner Schultasche fester. Hektisch drehte ich mich um die eigene Achse. Mein Begleiter stand bereits knietief im Wasser. Seinen Arm hielt er hinter dem Rücken versteckt. Genau dort vermutete ich die Pistole. Kurz entschlossen hängte ich mir die Riemen der Tasche über die Schulter, damit sie nicht nass werden würde und nahm, ohne weiter darüber nachzudenken meine Beine in die Hand. Wenn mich nun restlos alle, die ich kannte oder zu denen ich früher einen guten Draht gehabt hätte, für eine Straftäterin hielten, könnte ich nicht bleiben. Dann würde ich nicht einmal an diesem Ort festhalten wollen, würde ich in der Nähe einen Unterschlupf finden.
DU LIEST GERADE
Nicht ohne dich
AdventureNoah ist so stur, so unberechenbar, so anders, als all diejenigen, die Julie bisher kannte. Und sie weiß, dass sie niemals eine Chance haben werden. Nicht nach dem Chaos, das Noah angerichtet hat. Nicht nach den Racheplänen, die er schmiedet. Doch w...