Kapitel 9

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Im Eilschritt stapften wir über Zweige und Laub hinweg auf das Ende des Waldes zu. Mein Magen fühlte sich mittlerweile wie ein riesengroßes, tiefes Loch an, so ausgehungert war ich. Dass Noah letzte Nacht keinen Bissen mehr heruntergekriegt hatte, kam mir nun zugute. Noch im Gehen zog ich den Reißverschluss meiner Tasche auf, um mir mit knurrendem Bauch eines der Sandwiches aus der Brotdose zu nehmen. Das war zwar keine sehr üppige Mahlzeit, doch besser als nichts.

»Da drüben«, sagte Noah und bremste abrupt. Dadurch lief ich fast in ihn hinein. »Den Parkplatz nehmen wir.«

Von Autos verstand ich etwas, vom Klauen allerdings nicht das Geringste. Ein wenig verunsichert folgte ich Noah also über die Straße, während er zielsicher auf die parkenden Wagen zusteuerte. Gelassen probierte er eine Autotür nach der anderen zu öffnen. Hin und wieder warf er einen Blick über seine Schulter, bis er schließlich bei einem schwarzen Ford Pick-Up Erfolg hatte. Binnen weniger Sekunden hatte Noah sich auf den Fahrersitz geschwungen und eine Abdeckung unter dem Lenkrad hervorgezogen. Geschickt nahm er die nun herausguckenden Kabel zwischen die Finger. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich umklammerte die Griffe meiner Schultasche und guckte mich verstohlen um, als ich plötzlich Schritte hinter mir wahrnahm.

»Kann ich Ihnen helfen?« Die fremde Stimme war tief, aber freundlich mit einem Hauch von Verwunderung. Ich spähte in die Spiegelung des Lacks. War der Parkplatzwärter etwa so früh schon da? Dann drehte ich mich für eine Minute um, und blickte einem Deputy in das faltendurchzogene Gesicht. Er befand sich unmittelbar hinter dem Pick-Up. Langsam wanderte seine rechte Hand zu dem Pistolenholster, während ich stumm mit den Fingern nach Noahs Schulter tastete. Ohne hinzusehen, zupfte ich an seinem Pullover, während eine Hitzewelle durch meinen Körper jagte. Endlich reagierte er und wandte sich mir zu, den Schutz des Wagens im Rücken. Unsere Augen streiften sich, meine gefüllt von Panik. Sein Gesichtsausdruck war angespannt, verbarg aber mindestens ebenso viel Selbstvertrauen. Dadurch konnte ich mich immerhin ein wenig sicherer fühlen. Noah nickte mir zu und griff nach der Pistole, die er kurzzeitig auf der Mittelkonsole abgelegt hatte.

»Umdrehen!«, rief der Deputy bedrohlich.

Mit erhobenen Händen drehte ich mich zu dem Deputy um. In dessen Gesicht konnte ich eine Veränderung erkennen. Offenbar hatte er mit einem Autodiebstahl und nicht mit einem vermeintlichen Mörder und seiner Komplizin gerechnet.

Noah sprang aus dem Auto heraus. Er richtete die Waffe zuerst auf den Mann in Uniform. Dann wanderte die Mündung der Pistole langsam an meinen Kopf und ich spürte seine starke Brust an meinem Rücken, so wie beim ersten Mal. Ich atmete stoßweise. Meine Handflächen wurden schwitzig und mein Puls beschleunigte sich drastisch.

Vor meinem geistigen Auge sah ich meinen Bruder an seinem letzten Geburtstag. Ich sah meinen Dad, wie er Conor den Kuchen vor die Nase hielt, und wie der leichte Rauch der Kerzen in die Luft aufstieg, nachdem Conor sie ausgepustet hatte. Unsere Mom hatte permanent gelächelt. In eine Decke gehüllt hatte sie auf dem Sofa gelegen, weil sie noch zu schwach gewesen war, um aufzustehen. Doch sie hatte gelächelt. Daran hielt ich mich fest. Und daran, dass ich bestimmt noch ganz viele solch bezaubernder Momente erleben würde.

Gott, ich wollte meine Familie wiedersehen. Sie bedeuteten mir die ganze Welt, aber ich würde sie verlieren, wenn ich mich nun ergeben und ins Gefängnis wandern würde. Ebenso, wie wenn ich weiterhin mit Noah auf der Flucht wäre. Meine Eltern konnten ja nicht ahnen, das er kein Mörder war, und ich konnte es ihnen nicht sagen. Oder überhaupt irgendetwas zu ihnen sagen. Dass es mir gut ging zum Beispiel. Ich musste mich darauf besinnen, dass sie wahrscheinlich im tiefsten Inneren wussten, dass ich keine Komplizin eines kaltblütigen Mörders sein könnte. Das durften sie einfach nicht glauben, vollkommen gleichgültig, was die Medien der Welt eintrichtern wollten. ... Vermutlich war sogar noch viel schlimmeres passiert, als dass Phantombilder von mir im Fernsehen gezeigt worden waren. Wahrscheinlich hatten die Cops bereits mein Zimmer auf den Kopf gestellt, um nach Hinweisen zu suchen und waren dabei auf meine geheimsten Fantasien und größten Träume gestoßen. Auf all meine persönlichen Dinge; Schnappschüsse von Mitschülern oder Freunden. Jahrbücher. Polaroidfotos, die meine beste Freundin und ich gemacht hatten, bevor sie nach Texas gezogen war. Jetzt schrieben wir einander nur noch Briefe, die ich in einer Dose unter meinem Bett aufbewahrte. Auch die würden sie lesen. Bald wüssten meine Eltern und die Cops von meinen Geheimnissen, jedem winzigen Fehler, jeder Lüge und jeglicher Schwärmerei, die ich auf irgendeine Weise aufgeschrieben und somit verewigt hatte. Meine Augen füllten sich mit Tränen, während mich die Reue lähmte und zurück in die Realität zwang, in der mir eine Schusswaffe an die Schläfen gepresst wurde.

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