»Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, zu jeder Vernehmung einen Verteidiger hinzuzuziehen. Wenn Sie sich keinen Verteidiger leisten können, wird Ihnen einer gestellt.«, klärte mich ein Polizist auf.
Gewaltsam drückte man mir die Hände auf den Rücken. Kurz darauf spürte ich kaltes Metall an den Handgelenken und mit einem leisen Klickgeräusch wurden die Handschellen verschlossen.
»Haben Sie Ihre Rechte verstanden?«
»Ja.«
Ich atmete tief ein, um mir den Duft von Wald, Gräsern und vereinzelten Blüten einzuprägen. Dann schloss ich die Lider, während man mich aufrichtete und über die Wiese abführte. Jeder Schritt übte Druck auf meinen verletzten Fuß aus und jagte eine Welle von Schmerz durch meinen Körper. Ich sah weiße Tupfer und wilde Flecken hinter geschlossenen Lidern, die aussahen, wie wenn die Samen einer Pusteblume in alle Himmelsrichtungen segelten. Conor hatte sie immer als kleine Fallschirme bezeichnet.
»Julie, zeig mir nochmal die Fallschirme«, hörte ich seine junge Stimme in meinen Ohren widerhallen. Ich fühlte die hellgrünen Stängel des Löwenzahns zwischen meinen Fingern und pustete, bis sich die Fallschirme lösten und zu schweben begannen. Conor klatschte in die Hände. Sein Lachen war so echt, dass ich unwillkürlich lächeln musste. Doch in der nächsten Sekunde blickte ich nicht mehr in die leuchtenden Kinderaugen meines Bruders, sondern in Noahs. Seine Haut war makellos. Keine Kratzer, keine Hautirritationen, nichts. Die federleichten Fallschirme verhedderten sich in seinen braunen Haaren, die stets ein wenig zu lang waren und ihm in die Stirn fielen.
Noah sah mir tief in die Augen. Seine Iris leuchtete smaragdgrün, während er seine Hand ausstreckte und meine Wange berührte. Ich schmiegte mich an seine warme Haut und lauschte seiner Atmung. Eine sommerlich leichte Brise wehte Noah die Haare aus der Stirn, aber er regte sich nicht. Sanft glitt seine Hand hinab zu meinem Kinn, welches er ein wenig hochdrückte, damit ich ihn wieder vollständig ansah.
»Julie« Seine Stimme war ernst.
Aufmerksam guckte ich ihn an.
»Hör mir gut zu.«, sagte er. »Warum leben wir noch?«
»Tun wir das?« Es kam mir vor, als wäre ich bereits tot.
Noah nickte.
»Ich weiß nicht, weshalb wir noch leben.«
»Denk nach, Julie.«, forderte er.
Gedanklich schweifte ich ab zu den Polizisten in ihren Schutzwesten. Sie waren langsam vorgedrungen. Keiner hatte auch nur ein einziges Mal geschossen. Immer mal wieder hatte sie Blicke gewechselt, die mich beunruhigt hatten. Niemand von ihnen war Noah gefolgt. Stattdessen hatten sie sich auf mich konzentriert. Sie hatten mich umkreist und waren mir schlussendlich so nah gekommen, dass ich entweder hätte schießen oder mich ergeben können.
Ich hatte mich ihnen ergeben. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte ich die Waffe fallen, und mich festnehmen lassen. Sie hatten mich weggeführt, doch keiner von ihnen war umgekehrt, um Noah einzuholen. Wieso war ich ihnen so wichtig? Ich war nur eine Schülerin, die zufällig in dieses Chaos hereingerissen worden war.
Urplötzlich kam mir ein bestürzender Gedanke. »Sie brauchen mich«, entfuhr es mir.
Noah verzog keine Miene.
»Sie brauchen mich.«, wiederholte ich leise.
Danach fuhr ich mir über das Gesicht. »Sie wollten mich nicht erschießen, weil sie mich dadurch verloren hätten.«
»Warum wollten sie mich, und nicht dich? Ich weiß doch gar nichts darüber, warum dein Plan war, einen Mann im Supermarkt zu erschießen und Leute zum Haus deines Onkels zu lotsen.« Verwirrt sah ich Noah an.
Er schwieg.
Eigentlich gab es nur eine Antwort auf meine Fragen. Und zwar, dass die Polizei dachte, Noah hätte mir inzwischen alles erzählt. Sie würden versuchen, mich zum Reden zu bringen. Vielleicht war das bei mir tausendmal leichter als bei ihm, weil ich im Gegensatz zu Noah noch etwas zu verlieren hatte. Wenn ich es recht bedachte, war diese Strategie absolut genial. Auf diese Weise würde die Polizei Noah beim nächsten Teil seines Plans, den ich ihnen vorher erläuterte, festnehmen. Außerdem schien auch nicht ganz uninteressant zu sein, was Noah für Informationen hatte. Es könnte sein, dass die Polizei diese brauchte, um einen weiteren Fall aufzuklären, an dem Noah beteiligt war. Oder, weil es galt, herauszufinden, was genau Noah alles wusste, mit wem er sein Wissen geteilt hatte, und diese Menschen einen nach dem Anderen zu eliminieren, um größeren Schaden zu vermeiden.
Mir drängte sich eine weitere Frage auf: Wer zog die Fäden?
Und schließlich fragte ich mich unwillkürlich: War jemand hinter Noah her, oder verfolgte er jemanden?
»Atme.«
Schlagartig schaute ich auf. Noah sah mich eindringlich an. Eine steile Falte hatte sich zwischen seinen Brauen gebildet. Es lag Besorgnis in seinem Gesicht.
»Du musst atmen.«, sagte Noah.
Also atmete ich. Sauerstoff gelangte in meine Lungen, und die Düsternis verflüchtigte sich. Wieder tanzten kleine Fallschirme vor meinen Augen. Das Bild von Noah wurde unscharf. Ich wollte daran festhalten, aber irgendetwas zog mich vehement weg von ihm, zurück in die Realität.
Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich Polizisten, die sich ihre Helme abgenommen hatten. Schweiß hatte ihre Haare getränkt und mit erschöpften Gesichtern sprachen sie miteinander. Mir war völlig entgangen, dass ich mich bereits im Schatten im inneren eines Autos befand. Mühsam drehte ich meinen dröhnenden Kopf und wandte mich von der Fensterscheibe ab. Ich fuhr zusammen, als ich die Frau mit braunem Pferdeschwanz sah, die neben mir auf der Rückbank des Streifenwagens saß. Sie hielt mir eine Wasserflasche vor die Nase.
»Du warst ohnmächtig.«, erklärte die Frau.
»Oh« Ich schaute erneut hinaus aus dem Fenster. Jemand hatte mir die Handschellen abgenommen.
»Trink«
Erschöpft nahm ich die Wasserflasche an. Unentschlossen hielt ich sie in den Händen, doch ich wagte es nicht, meine Lippen an die Öffnung zu setzen. Viel zu groß war die Angst, sie könnten etwas ins Wasser gemischt haben, um mich auszuknocken.
»Das Mädchen«, hörte ich jemanden gedämpft sagen. »Ja, sie ist hier.«
Ich bemühte mich, möglichst unbeteiligt dreinzublicken. Unterdessen fand ich heraus, dass die Fahrertür offen stand. Ein Polizist telefonierte.
»Bitte« Die Frau neben mir hob ihre Hand. Ruckartig zuckte ich zusammen. Verängstigt drückte ich mich an die Tür und krallte mich mit den Fingern in die Wasserflasche.
»Hey«, murmelte die Polizistin mit dem Pferdeschwanz. »Nimm das Taschentuch. Wisch dir den Dreck von den Händen und aus dem Gesicht.«
Ich starrte sie an.
Im Hintergrund sprach ihr Kollege wieder in sein Handy. »Geht klar, Captain Brown. Wir fahren jetzt los.«
Die Polizistin zog ihre Hand wieder zurück. Besser so. Ich lehnte den Kopf wieder gegen die Fensterscheibe, und versuchte, mich auf die nächsten Stunden gefasst zu machen. Relativ schnell wurde mir allerdings klar, dass man sich auf das, was mich erwartete, wohl kaum gefasst machen konnte. Man konnte es nur über sich ergehen lassen.
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Nicht ohne dich
AdventureNoah ist so stur, so unberechenbar, so anders, als all diejenigen, die Julie bisher kannte. Und sie weiß, dass sie niemals eine Chance haben werden. Nicht nach dem Chaos, das Noah angerichtet hat. Nicht nach den Racheplänen, die er schmiedet. Doch w...