Kapitel 25

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»Hey« Es war Miles, der sich neben mich setzte.

Hastig wischte ich mir über die Augen. Hoffentlich sah man mir nicht an, dass ich geweint hatte.

»Hey«, sagte ich. Anhand meiner Stimme hörte man es definitiv.

Miles schaute sich um.

»Es ist wahnsinnig schön hier.«, stellte er fest.

In einer einvernehmlichen Stille saßen wir da, und guckten auf den See hinaus. Leise plätscherte das Wasser gegen die Steine.

»Hattest du keinen Hunger?« Miles sprach leise, so als wollte er die friedliche Stimmung nicht kaputtmachen.

Automatisch horchte ich tief in mich hinein. Erst jetzt fiel mir auf, was ich für einen riesigen Hunger hatte. Die Trauer dämpfte ihn nicht besonders.

»Doch, irgendwie schon.«, antwortete ich, fast ebenso leise wie er.

Miles zog eine kleine Leinentasche hervor, die bislang rechts auf dem Felsen, unter seinem Arm, gelegen hatte. Er holte Sandwiches in Brotpapier hervor. Dann rückte er etwas, um mehr Platz zwischen uns zu schaffen und packte auch Muffins, Cookies und Bagels aus.

»Die Sandwiches haben wir mit Kühlakkus im Auto gehabt, aber bei der Hitze halten sie nicht besonders lange, also greif zu ehe sie schlecht werden.« Miles nahm zwei Flaschen mit orangefarbener Flüssigkeit aus der Leinentasche. Eine davon gab er mir.

»Was ist das?«, fragte ich.

Er schüttelte die Flasche. »Orangensaft. Habe ich vorhin abgefüllt, weil ich dich nicht mit so einem riesigen Kanister unterm Arm suchen wollte.«

»Das klingt sinnvoll.«, meinte ich.

»Allerdings.« Miles lachte.

Schüchtern nahm ich mir ein Sandwich.

Miles tat es mir gleich. »Hat dir Noah eigentlich von Jake und mir erzählt?«

»Nein«, sagte ich, als ich den ersten Bissen heruntergeschluckt hatte. Dieses Sandwich war viel zu lecker, um sich den Moment mit Gedanken an Noah zu zerstören.

»Er hat sehr viel durchgemacht in den letzten Jahren.« Miles biss von seinem Sandwich ab.

Mein Blick schnellte zu ihm. »Für jeden ist es mies, wenn ein Familienmitglied stirbt, nicht nur für Noah.«

»Was meinst du?«

»Sein Onkel«, erinnerte ich.

»Der ist doch gar nicht gestor-« Plötzlich sah er mich mit geweiteten Pupillen an, »Noah hat gesagt, dass sein Onkel gestorben ist?«

»Wieso? Lebt er etwa noch?« Es durchfuhr mich heiß und kalt.

Miles sah mich stirnrunzelnd an. »Nee. Tot ist er schon.«

»Aber?«, hakte ich nach.

»Noahs Onkel wurde ermordet.«, brachte Miles mühsam hervor.

Ich erstarrte. Ermordet. Es ging mir immer wieder durch den Kopf. Ermordet. Unschlüssig betrachtete ich das Sandwich in meiner Hand, bevor ich es beiseite legte. Wäre jemand aus meiner Familie ermordet worden, würde ich vermutlich durchdrehen. Mist. Ich versuchte, mich an jedes von Noahs und meinen Gesprächen zu erinnern. War ich unsensibel gewesen, als ich von meinem Opa erzählt hatte?

»Miles«, sagte ich ernst. »Was ist denn mit Noahs Eltern?«

Anscheinend hatte er schon mit dieser Frage gerechnet, denn er hatte nun ebenfalls von seinem Sandwich abgelassen, dass nun wieder auf dem Brotpapier lag, und starrte hilflos auf den See hinaus.

»Miles«, wiederholte ich.

Er rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Für einen Moment verharrte Miles in der Bewegung und atmete tief durch. Dann wandte er sich mir zu, mit einem Ausdruck im Gesicht, der mir das Herz zerriss. »Noahs Eltern wurden ermordet als er noch ein Kind war.«

Geschockt guckte ich Miles an. Tränen schossen mir in die Augen, während ich darüber nachdachte, was es bedeutete, seine Eltern zu verlieren. Es war als Kind meine größte Angst gewesen, und seit der Krankheit meiner Mum andauernd präsent. Ohne sie hätte ich niemanden mehr gehabt, mit dem ich über meine Probleme und Sorgen hätte sprechen können. Auch Kleidung hatten wir zusammen gekauft. Natürlich war das bei Jungs anders, doch das machte es nicht gerade einfacher. Wie kam man alleine, ohne Eltern, in der Highschool klar?

Miles legte seinen Arm um mich. Er schob das Essen mit seiner freien Hand ein Stückweit nach vorne, sodass ich dichter an ihn heranrücken konnte. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und bemühte mich, meine Gedanken und Emotionen irgendwie wieder zu sammeln.

»Falls es dir hilft ... Noahs Onkel hat nach dem Tod seiner Eltern für ihn gesorgt. Er war nicht einsam als Kind.«, flüsterte Miles mir beruhigend zu.

Ich schämte mich für meinen Gefühlsausbruch. Immerhin ging es um Noah, nicht um mich. Meine Mum lebte noch, seine nicht.

»Wann ...« Ich schniefte, »Wann ist sein Onkel ...«

Miles übte mit seiner Hand einen sanften Druck auf meine Schulter aus, als wollte er mir mitteilen: Ich bin für dich da. Alles wird gut.

»Anfang des Jahres, kurz nach Noahs achtzehntem Geburtstag.«, sagte er.

Stumm ließ ich die Informationen auf mich wirken. Ich konnte kaum begreifen, wie schrecklich diese Phase in Noahs Leben gewesen sein musste. Alles, was ich mir vorstellte, schien zu leicht, ... zu erträglich. Er hatte seine Eltern verloren als er noch ein Kind war. Ein Kind. Wehrlos und ängstlich. Sein Onkel hatte sich um ihn gekümmert. Jahrelang hatte Noah Zeit gehabt, über dieses furchtbare Ereignis, den Tod seiner Eltern, hinwegzukommen - falls das denn überhaupt möglich war - , und nun ermordete man auch noch seinen Onkel, seine einzige Bezugsperson.

Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten. Meine Nägel krallten sich in meine Handflächen, aber ich nahm den Schmerz nicht wahr. Dafür schien er mir einfach nicht stark genug zu sein. Er hatte keine Berechtigung, zu existieren, solange Menschen andere ermordeten und sich Krebszellen in unseren Körpern vermehrten.

Es knackte hinter uns. Sofort rückten Miles und ich auseinander, um uns umzusehen. Eigentlich hätte ich erleichtert sein müssen, dass nicht die Cops mit gezückten Pistolen hinter uns standen, doch bei Noahs Anblick wünschte ich mir beinahe, man hätte uns gefunden. Seine Augen wanderten von Miles zu mir und eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn.

»Hey, Mann« Miles stützte seinen Arm, den er soeben noch um meine Schulter gelegt hatte, auf dem Felsen ab, »Setz dich zu uns. Es ist wunderschön hier.«

Angespannt beobachtete ich, wie Noah seinen Freund musterte. Nach einigen Sekunden deutete er schließlich mit dem Daumen über die Schulter. »Ich soll euch bescheid sagen, dass wir gleich etwas besprechen wollen.«

»Alles klar«, entgegnete Miles locker und entschärfte die Situation damit ein wenig.

Als Noah ging, stand ich vom Felsen auf. Miles packte das Essen ein, und wir machten uns langsam auf den Weg zurück zu den Autos.

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