Kapitel 24

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»Denk daran: Du musst schießen!«, sagte jemand mit Nachdruck. »Erschieß sie!«

Ich schreckte hoch. Schwer atmend sah ich mich um. Miles war nicht mehr im Auto. Dafür stand die vordere Tür des Wagens offen und jemand lehnte an der Motorhaube. Müde rieb ich mir über das Gesicht. Mein Nacken war verspannt und meine Beine taten vom ewigen Sitzen weh.

»Ist mir egal. Du musst schießen.«

Ruckartig legte ich die Hand auf den Türgriff. Dann hielt ich inne, um zu realisieren, dass die Forderungen, jemanden zu erschießen, nicht zu meinem Traum gehört hatten.

»Erschieß sie einfach.«

Jetzt stieß ich die Autotür auf und stieg aus.

»Wen erschießen?«, fragte ich, noch bevor Miles sich zu mir umdrehen konnte. Zum ersten Mal sah ich ihn bei Tageslicht, ohne benommen oder todmüde zu sein. Seine Haare erschienen mir nicht mehr ganz so pechschwarz wie gestern, und heute hatten sie sogar einen ziemlich deutlichen Braunstich.

»Guten Morgen« Miles lächelte mich verschmitzt an.

Ich runzelte die Stirn. »Wen wollt ihr erschießen?«

Jake wandte sich mir zu. Seine Miene war gleichgültig.

»Noah kommt gleich.«, sagte Miles, als würde Noah die Antwort auf meine Frage sein.

Eine Autotür klappte. Währenddessen lehnte sich Jake wieder gegen die Motorhaube und blickte gen Himmel. Einzelne Sonnenstrahlen fielen auf sein dunkelblondes, kurzes Haar. Das Rostrot seines T-Shirts wirkte wie ein Lichtfleck zwischen dem Grün der Pflanzen.

»Hast du gut geschlafen?«, wollte Miles wissen. Er warf einen beunruhigten Blick zu dem anderen Wagen. Das musste ein Chevrolet Equinox sein. So einen hatte mein Dad repariert, als er unserem Nachbarn in seiner Autowerkstatt ausgeholfen hatte.

»Klar«, log ich. Mit Sicherheit würde es mich nicht weiterbringen, Miles und Jake zu erzählen, dass ich die gesamte Nacht in meinem Traum verfolgt worden war. Ich würde mich nicht in die Schublade des armen, kleinen Mädchens stecken lassen.

Die Autotür klappte wieder. Schließlich tauchte Noah auf. Zweige knackten verräterisch unter seinen Schritten. Im Gehen hob Noah den Kopf. Als er Jake, Miles und mich sah, verlangsamte er sein Tempo sofort. Dass die Konstellation aus uns Dreien vermutlich nichts gutes zu bedeuten hatte, erkannte Noah spätestens an unseren Gesichtern.

»Ich bin weg« Jake stieß sich von der Motorhaube ab.

Noah hielt seinen Freund auf.

»Bring das in Ordnung.« Jake wies auf mich.

Miles guckte zu mir. Im Augenwinkel nahm ich die Ernsthaftigkeit seiner Mimik wahr.

»Was stellst du dir denn vor?«, hörte ich Noah sagen. Kopfschüttelnd ließ er Jake stehen. Dieser musterte mich verächtlich. Dann machte er sich auf den Weg zum Auto.

Als Noah neben Miles stehenblieb, konnte ich kaum mehr einen klaren Gedanken fassen.

»Du musst ihr alles erklären.«, forderte Miles. Ich wich sowohl seinem als auch Noahs Blick aus. Irgendwie war ich es leid, die beiden anzugucken. Niemand schien mir wirklich etwas anvertrauen zu wollen. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was wir vorhatten, um zu überleben. Alles, was ich tat, war improvisiert.

»Du sagst das so leicht« Noah fuhr sich durchs Haar.

Miles zuckte die Achseln.

»Hast du Jake gehört?«, fragte Noah.

»Haben wir.«, gab Miles zurück.

Seufzend lehnte sich Noah gegen einen Baumstamm. Gestern Abend hatten wir uns noch umarmt, und jetzt sprach er nicht einmal mehr mit mir. Noah behandelte mich, als wäre ich unsichtbar. Theoretisch könnte ich einfach gehen.

Für einen Moment dachte ich nach, doch dann kehrte ich den beiden einfach den Rücken zu. Meinetwegen könnten sie weiterreden. Wenigstens wäre ich nicht mehr gezwungen, ihnen zuzuhören, wenn ich nun ging.

Die Blätter vom Mais streiften meine nackten Arme und Hölzer knackten laut, sobald ich mich in Bewegung setzte. Es dauerte nicht lange, da erreichte ich den Geländewagen, in dem Jake saß. Er beobachtete mich durch die Windschutzscheibe. Ich lief weiter und schenkte ihm keinerlei Beachtung. Wahrscheinlich machte ihm das nicht im Geringsten etwas aus, doch innerlich hoffte ich trotzdem ein wenig, dass es vielleicht ein winziges Bisschen an seinem Ego nagte.

Hinter dem Maisfeld befanden sich große Bäume. Dahinter wuchsen wilde Sträucher und bildeten einen kleinen Schutzwall, perfekt für uns. Ich blickte nach links und entdeckte einen kleinen See. Steine und Felsen lagen am Ufer. Vorsichtig setzte ich einen Fuß auf den großen Felsen, der schon halb von Moos bewachsen war. Dadurch, dass es warm und trocken war, war das Moos nicht rutschig. Mutig balancierte ich weiter. Von Stein zu Stein, danach wieder auf einen größeren Felsen und schließlich setzte ich mich hin. Der Ausblick war wunderschön. Kein Vergleich zu Conors und meinem Lieblingssee bei uns zu Hause.

Mum würde es hier gefallen. Das Wasser glitzerte in der Sonne. Die Baumkronen spiegelten sich im See wider, und es war so ruhig und friedlich an diesem Ort, dass man völlig vergessen konnte, welcher Trubel außerhalb dieser Gegend herrschte.

Ich fuhr mit dem Zeigefinger die Maserung des Felsens nach. Mir war unbegreiflich, wie ich mit Noah umgehen sollte. Oder vielleicht war es auch einfach an der Zeit, zu gehen. Seine Freunde waren nun für ihn da. Miles war nett, aber Jake schien mich zu hassen. Wir hatten noch kein Wort miteinander gewechselt, und sobald ich ihn ansah, erntete ich einen eisigen Blick, als wollte er mich umbringen und könnte es bloß nicht, weil sie mich erst gerettet hatten. Warum tat Noah so etwas? Weshalb rettete er mich und behandelte mich anschließend als wäre ich Luft?

Mein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Tränen sammelten sich in meinen Augen und liefen stumm über meine Wangen hinweg, bis sie auf den Felsen tropften.

Es kam mir vor, als hätte sich ein dunkler Schleier vor die Welt geschoben. Er umhüllte mich, sodass ich keine Freude fühlte und wie abgestumpft ins Leere starrte. Alles war trist, schwarz und weiß, und es tat so entsetzlich weh. Ich war nicht gewollt. Ich war verwirrt. Und ich wollte nach Hause. Nur noch die weichen Laken meines Bettes wahrnehmen und nie wieder aufstehen müssen.

»Julie?«

Ich fuhr zusammen, und die Welt fügte sich wieder.

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt