Kapitel 6

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Der seelische Stress nahm zu und der Druck erreichte ein neues Level, als mehrere Streifenwagen am Rande des Waldwegs hielten, der uns zum See geführt hatte. Ich hockte in einem Busch und beobachtete, was am anderen Ufer geschah. Stimmengewirr kam bei uns an, allerdings keine eindeutigen Wortlaute. Einige Polizisten in ihren Uniformen standen vor dem Unfallwrack, nachdenklich, die Arme in die Seiten gestemmt. Ein anderer zeigte zum Strand. Seine Kollegen folgten ihm im Eilschritt. Fachmännisch begutachtend beugte sich einer von ihnen vor. Was sahen sie sich an?

Ich begann, auf meiner Unterlippe zu kauen. Ein bedrückendes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Allmählich machte ich mir Sorgen darüber, was so interessant an einem Strand sein konnte ... Und dann dämmerte es mir.

»Sie haben unsere Schuhabdrücke im Sand entdeckt.« Meine Schläfen pochten. Ich musste mir definitiv aneignen, wie eine Flüchtige und nicht wie eine Schülerin zu denken. »Was sollen wir tun?«

Noah war vollkommen in Gedanken versunken. Mit den Fingern zerrupfte er ein Blatt, welches fast genauso grün war, wie die Farbe seiner Augen.

»Hey«, machte ich und starrte Noah an, als könnte ich ihn damit hypnotisieren und aus der Reserve locken. »Du meintest doch, wir sollten in Bewegung bleiben.«

»Ich weiß«, sagte er monoton, während er sich umschaute. Dann zog er seinen Pullover aus und saß kurz darauf in einem T-Shirt vor mir, das ebenso schwarz wie seine Jeans war. Ich horchte nach beunruhigenden Geräuschen. Bis auf die weit entfernten Stimmen der Deputies, das Surren der Insekten und Zirpen der Grillen, war allerdings nichts zu hören. Wir standen auf und bahnten uns einen Weg durch das Gestrüpp. Hoffentlich würde ich keine Zecke kriegen. Das wäre das Letzte, was ich heute gebrauchen könnte.

Bald erkannte ich, weshalb die meisten Menschen nicht in der brütenden Mittagshitze spazieren gingen, sondern so etwas auf den Abend verlagerten. Der Schweiß rann uns über die Stirn und ich fühlte mich wie in der Wüste angekommen, dabei waren wir noch nicht lange unterwegs. Außerdem war die Stimmung gedrückt. Ich hasste das. Hin und hergerissen zwischen meiner Sturheit und meinen sich verkettenden Gedanken, flog ich fast auf die Nase. Noah stoppte abrupt, da ihn mein Stolpern ebenso erschrocken hatte wie mich selbst. Wenn er sich in der letzten Stunde umgesehen hatte, dann nur zur Sicherheit. Jetzt hafteten seine zusammengekniffenen Augen auf mir, als wollten sie mir sagen: Reiß dich zusammen.

»Mein Name ist Julie«, sagte ich, als ich mich wieder gefangen hatte und schob mich an einem Baum vorbei. Es erschien mir wie eine Art von Gegenleistung, Noah meinen Namen zu sagen. Auch, wenn ich noch immer nicht ausschließen konnte, dass er mich in eine Falle locken könnte, standen die Chancen für mich sowieso besser als für ihn. Beihilfe zum Mord wurde längst nicht so hart bestraft wie Totschlag an sich. Ihm meinen Namen zu nennen, würde in der Hinsicht höchstens sein Gewissen anregen, falls er denn eines hatte, und bestenfalls die Atmosphäre etwas auflockern.

Als Noah sich wieder in Bewegung setzte, wirkte er verändert. Er hielt die Waffe mit der Mündung nach unten gerichtet noch immer auf der rechten Seite seines Körpers, sein Zeigefinger lag jedoch längst nicht mehr am Abzug.

»Julie«, wiederholte Noah. Es fühlte sich seltsam an, aber es gefiel mir dennoch, wie er meinen Namen aussprach.

»Ist das eine Abkürzung?«, fragte er.

Ich biss mir auf die Innenseite der Wange.

»Vielleicht.«, sagte ich.

Noah sah mich von der Seite an, was mich nervös machte. Um keinen Preis der Welt würde ich ihm meinen vollen Namen verraten. Das hatte ich schon seit der Junior High nicht mehr freiwillig getan. Wenn ich daran zurückdachte, konnte ich sogar noch das Lachen meiner Mitschüler hören. Unglaublich, wie andere Menschen es schafften, dass man anfing, Dinge an sich selbst zu verabscheuen und sich für diese zu schämen, obwohl sie einem von alleine niemals zuvor aufgefallen waren. Ganz im Gegenteil. Früher hatte ich meinen Namen wirklich gerne gemocht. Ich hatte nicht den Außenseiter in mir gesehen, sondern ein Mädchen, das Mom's Apfelkuchen liebte, und sämtliche ihrer Geschichten zu all den Reisen nach Europa, die sie mit meinem Dad zusammen unternommen hatte. Doch ganz besonders eingeprägt hatte sich mir ihre Erzählung von einer jungen Frau aus dem Süden Frankreichs, die ihnen die vielen Weinreben auf ihrem Land gezeigt hatte. Und als ihre Mutter sie mit dem Namen ›Juliette‹ angesprochen und die junge Frau herzlich gelacht hatte, hatte meine Mom gewusst, dass ihre Tochter auch so heißen sollte.

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