Kapitel 74

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Als wir aus dem FBI Field Office hinaustraten, schien die Sonne. Ich reckte mein Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen und lächelte. Freiheit. Dieses Gefühl würde ich nie wieder für selbstverständlich nehmen. Und ich würde ganz sicher nicht vergessen, wie es war, seiner Freiheit beraubt zu werden. Wie einsam ich mich bei Nacht in der Zelle gefühlt hatte. Gefangen und dazu gezwungen, über seine schlechten Taten nachzudenken. All das, was man im Alltag durch all die unterschiedlichen Möglichkeiten und Aufgaben gut verdrängen konnte.

Ich atmete die frische Luft ein und freute mich.

»Unfassbar, dass wir hier stehen.« Jake rieb sich die Nase. »Dabei dachte ich zwischendurch nicht selten: Jetzt war's das

»Geht mir auch so.« Miles blickte einige Sekunden das verglaste Gebäude hinauf, ungefähr dorthin, wo wir vor wenigen Minuten noch den Flur entlang gelaufen waren. Danach wandte er sich schlagartig ab und widmete seine Aufmerksamkeit Jake.

Dieser schob lässig die Hände in die Hosentaschen seiner blauen Jeans und zuckte mit den Achseln. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie man ein normales Leben führt.«

Ich lachte leise. »Das kommt wieder.«

Noah trat näher, wodurch er unseren kleinen Kreis schloss.

»Danke.« Er sah zu Boden und sprach leise weiter. »Dafür, dass ihr das alles mitgemacht habt.«

Vor meinem geistigen Auge konnte ich die zersplitterte Windschutzscheibe nach unserem anfänglichen Unfall sehen. Ich erinnerte mich an die Flucht durch den See, an unsere Unterhaltung im Gebüsch.

»Danke.«, wiederholte Noah emotional, als wir noch immer schwiegen. Er schaute besonders Miles und Jake an. »Ich wüsste nicht, was ich ohne euch ...-«

»Jederzeit wieder.«, unterbrach Miles ihn und hielt Noah seine Hand hin. Ohne nachzudenken schlug er ein und anschließend tat er dasselbe bei Jake. Mir wurde unwillkürlich warm ums Herz. Ich könnte zwar nicht sagen, ob Noah tatsächlich wunschlos glücklich war in diesem Moment, doch zumindest war er zutiefst dankbar. Vor allem für das Leben.

Unsere Schultern berührten sich. Noahs Augen fanden meine. Schmetterlinge tanzten in meinem Bauch. Er hätte nicht erahnen können, wie sehr ich ihm diesen Erfolg gönnte. Und wie sehr ich ihm alles Glück der Welt wünschte. Allen voran, dass diese unersetzliche Freundschaft zwischen Miles, Jake und ihm niemals endete. Aber darüber brauchte ich mir wohl keine Sorgen zu machen.

Miles sprach leise mit Jake.

»Ich bin dir auch dankbar.«, sagte ich derweil zu Noah. »Du bist echt verdammt gut gewesen, in dem Lesen der Baupläne und alldem.«

»Vielleicht bewerbe ich mich für ein Studium im Ingenieurwesen.« Er lächelte verlegen.

Ich freute mich. »Du wirst das super machen. Ich weiß das.«

»Du auch. Ob als Anwältin oder nicht.«

Ich wurde rot.

Da schlang er seine Arme um mich und drückte mir einen spontanen Kuss auf die Wange. Die Kapuze der Sweatjacke rutschte ihm vom Kopf, aber Noah kümmerte sich nicht darum. Er hielt mich von hinten fest umarmt und legte das Kinn auf meiner Schulter ab. Ich legte meine Hände auf seine warmen Arme. Entspannt lehnte ich mich zurück und genoss seine Nähe.

Der weiße Fußweg erstreckte sich vor uns. Saftig grüner Rasen auf akkurat getrimmte Länge befand sich daneben und spiegelte sich in den Glasscheiben des FBI Gebäudes wider. Weiter unten befand sich der Parkplatz, umrandet von Laubbäumen in gleichmäßig gepflanzten Abständen. Der Himmel war intensiv blau und durch die Sonne so stechend und grell, dass ich blinzeln musste. Zerfetzte Wolken hingen über uns, Motorengeräusche durchdrangen die angenehme Stille zwischen uns.

Schließlich machten wir uns auf den Weg. Der Wachmann am Eingang ließ uns ohne Umschweife passieren. Autos rauschten an uns vorbei, als wir die West Roosevelt Road erreichten. Der schwarze Zaun mit den weißen Pfeilern schien das gesamte Grundstück einzurahmen. Wir bogen auf den Fußweg ab. Zu unserer Linken, zwischen Asphalt und Bürgersteig standen auf beiden Seiten Bäume und säumten die Straße wie eine Allee.

»Noah?«, erklang plötzlich eine fremde Stimme.

Er stoppte schlagartig. Unbehaglich blickte er nach vorn. Man hätte meinen können, die direkte Ansprache hätte ihn in Trance versetzt. Oder in eine andere Zeit. In die Vergangenheit.

Ich wandte mich der Person zu, die vor der Einfahrt zum FBI stehengeblieben war und die anderen taten es mir gleich. Vor uns stand eine mittelalte Frau, in etwa so groß wie ich, kleiner als Noah und sehr zierlich. Ihre dunklen Haare fielen ihr in Wellen über die Schultern. Sie trug eine dunkelblaue Jeans und ein schneeweißes, bis zu den Ellbogen hochgekrempeltes Langarmoberteil.

»Erkennst du mich noch?«, fragte sie und ihre hoffnungsvollen, braunen Augen fixierten Noah.

Er schluckte. Die Zeit verstrich.

Miles murmelte etwas unverständliches. Jake suchte meinen Blick. Seine Mimik war ernst und eindringlich, als versuchte er, mir irgendetwas mitzuteilen. Ich kaute unruhig auf meiner Lippe, ließ meine Augen wieder zu der fremden Frau wandern. Sie sah Noah hilflos an. Er straffte seine Schultern und seine Brauen zogen sich zusammen, aber es wirkte nicht wütend oder gar misstrauisch, sondern traurig. Da wusste ich, was Jake getan hatte, und dass es nicht mehr lange unser beider Geheimnis bleiben würde.

»Teresa«, riet Noah schließlich, doch sein Tonfall klang rau und bestimmt.

»Ja, ich bin's.« Seine Tante nickte mit zusammengepressten Lippen. Ihre Mundwinkel zuckten, als wüsste sie nicht, ob sie vor Glück lachen oder vor Wehmut weinen sollte.

Ich spürte Noahs Finger vorsichtig an meinem Arm. Sofort senkte ich den Blick und hielt seine Hand wie selbstverständlich und voller Liebe mit meiner. Genau so, wie ich es vorhatte in den nächsten Jahren zu tun. Ob mit Familie oder ohne. In guten wie in schlechten Zeiten. Unsere Herzen waren verbunden.

Von nun an gehörten wir zusammen. Heute. Morgen. Und jederzeit.

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