Als Jake vom Parkplatz bretterte, schleuderte es mich fast nach vorne. Mit der rechten Hand umklammerte ich den Griff an der Innentür des Wagens, während ich mit der linken Hand nach dem Sicherheitsgurt für Noah suchte. Als er angeschnallt war, legte ich auch bei mir den Sicherheitsgurt an und blickte über meine Schulter hinweg durch die Rückscheibe hinaus auf die Straße. Es war niemand hinter uns.
Erleichtert widmete ich mich Noah. Noch ging seine Atmung relativ gleichmäßig, fast so als würde er ganz tief schlafen, obwohl sein Herzschlag unwahrscheinlich schnell war. Er lebte, doch seine Symptome waren beunruhigend. Wir hatten nicht den blassesten Schimmer, mit welchem Gift die Männer ihn ausgeknockt hatten. Er könnte jeden Moment aufhören zu atmen.
»Miles!«, stieß Jake hervor und richtete die Augen auf den Rückspiegel. Automatisch hob ich den Kopf.
Jake griff nach der Waffe, die auf dem Armaturenbrett lag und warf sie Miles in den Schoß.
Ich drehte mich um, und erblickte einen schwarzen Range Rover, der soeben auf die Straße abgebogen war. Hektisch schaute ich wieder nach vorne zu Miles und Jake. »Was tun wir jetzt?«
»Du musst schießen.« Jake warf Miles einen hektischen Blick zu.
»Ich ...« Miles starrte die Pistole entgeistert an, »Ich kann niemanden erschießen. Das war nicht die Abmachung!«
»Scheiß drauf, Miles! Ich habe dir gesagt, wenn es hart auf hart kommt, müssen wir etwas tun. Willst du etwa, dass sie uns einholen und umbringen?«, schrie Jake und beschleunigte erneut, als er merkte, wie schnell der Range Rover auf uns zusteuerte.
Mittlerweile waren wir fast zu schnell, als dass ich noch vernünftig hätte nachdenken können.
»Du verstehst nicht-«
»Lass es eben! Gib her!« Jake fluchte und nahm eine Hand vom Lenkrad, um nach der Waffe zu greifen.
Wir gerieten für einige Sekunden ins Schlingern. Übelkeit und Todesangst überrollten mich wie eine Riesenwelle. Ich griff nach Noahs Hand und hielt diese fest, während Jake einhändig nach der Waffe tastete.
»Hör auf!«, schrie ich ihn an. »Du bringst uns noch alle um!«
»Guck auf die Straße!« Miles zeigte mit dem Finger auf die Windschutzscheibe.
»Gib mir die Waffe!«, entgegnete Jake und fuhr in die Kurve. Reifen quietschten. Bäume und Verkehrsschilder flogen nur so an uns vorbei. Jake legte die zweite Hand ans Steuer, um den Wagen wieder in den Griff zu kriegen. Seine Augen gingen immer wieder zum Rückspiegel und die Furchen auf seiner Stirn wurden stetig tiefer.
Plötzlich löste sich ein Schuss aus einer Waffe. Wir fuhren vor Schreck zusammen.
»Verdammt« Jake zog den Kopf ein, ohne den Blick von der Straße zu lassen.
»Wir brauchen Noah«, entfuhr es mir.
»Was du nicht sagst, Julie.«, meinte Jake sarkastisch.
Ich drehte den Hals. Aus dem Beifahrerfenster des Range Rovers lehnte sich ein sonnengebräunter Mann heraus. In seiner Hand hielt er einen Revolver und seine Gesichtszüge zeigten eiserne Entschlossenheit.
»Gib her, Miles!«, sagte ich.
»Was?«
»Die Pistole« Ich warf einen Blick zurück zu dem Range Rover, »Gib sie mir!«
Miles erstarrte. Dann guckte er über seine Schulter und ich konnte erkennen, dass er leichenblass geworden war. Langsam, fast wie in Zeitlupe, schüttelte Miles den Kopf. In seinen Augen lag etwas warnendes. Aber nicht auf eine furchteinflößende Weise, sondern auf eine liebevolle. Fast hätte er mich zurückgehalten. Fast hätte mich Miles vor dem größten Fehler meines Lebens bewahrt, doch tief in mir drinnen, spürte ich, wir würden anders nicht aus der Nummer rauskommen. Wir durften es nicht riskieren. Ich könnte mir nicht verzeihen, diesen Menschen nicht geholfen zu haben.
»Jake« Meine Stimme klang dünn, »Gib mir bitte die Pistole.«
Jake griff nach der Waffe auf Miles Schoß und reichte sie zu mir nach hinten. Bei diesem Tempo war das ziemlich gewagt, aber wir hatten keine Zeit mehr, um uns noch irgendwelche Gedanken darüber zu machen.
Ich ließ Noahs Hand los, griff die Pistole und guckte mich um. Vorne begann Miles Jake zu verfluchen, doch meine Konzentration lag bereits auf dem Range Rover hinter uns. Jake fuhr die dreckige Scheibe herunter, sodass ich mich vorsichtig aus dem Fenster hinaus lehnen konnte. Der Fahrtwind war kalt und peitschte mir immer wieder ins Gesicht.
Unsere Verfolger ließen nicht nach. Der nächste Schuss traf unsere Heckscheibe, wodurch Jake das Lenkrad verriss. Glas splitterte und ich duckte mich. Blitzschnell lud ich die Waffe durch, so wie ich es bei Jake gesehen hatte. Ich beugte mich aus dem Fenster, hielt die Pistole mit beiden Händen und schoss. Beim ersten Mal traf ich komplett daneben. Es war schwierig, auf etwas zu zielen und zu treffen, wenn man noch nie zu Schießen geübt hatte. Und ganz besonders schwierig war, dass mein Schussobjekt keine Zielscheibe war. Es waren zwei Menschen aus Fleisch und Blut, so wie wir auch.
Ein Schuss unserer Gegner traf das Blech des Autos. Die Erschütterung ging mir durch Mark und Bein. Ich umklammerte den Griff der Pistole und sah Noah an. Ohne ihn schienen mir planlos zu sein. Alles, was er begann, hatte Sinn. Noah schaffte es, mir ein Ziel zu geben. Er war der eine Mensch, der mir zeigte, was wirklich wichtig war und wofür es sich zu kämpfen lohnte. Denn Gerechtigkeit konnte nicht nur bedeuten, dem unschuldigen Mandanten aus der Patsche zu helfen. Manchmal bedeutete es, Straftaten zu begehen, um Freunden zu helfen.
Mit einem Mal erschloss sich mir, warum ich hatte Anwältin werden wollen. Es war niemals das Gehalt gewesen. Eigentlich war es schon immer mein ständiger Drang nach Gerechtigkeit, nach Fairness und der Wahrheit gewesen, der mich zu diesem Berufstraum geführt hatte. Doch jetzt war ich mir nicht mehr so sicher, ob die Zulassung für das Jurastudium immer noch das war, was ich dieses Jahr unbedingt erreichen wollte. Ich war mir nichtmal mehr sicher, ob ich tatsächlich nach Harvard gehen wollte. Plötzlich schien mir alles unrealistisch und total überzogen. Harvard erschien mir so weit weg.
Ich beugte mich vor, aus dem Fenster heraus, und zielte auf die Motorhaube. Der Range Rover fuhr uns zu dicht auf. Jake würde bald die Kontrolle über unseren Wagen verlieren. Bei diesem Tempo würden wir uns mehrere Male überschlagen und irgendwo auf dem Feld landen, wo nicht mehr als ein paar rauchende Knochenreste von uns übrig bleiben würden.
Also schoss ich. Für das Leben meiner Freunde.
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Nicht ohne dich
AdventureNoah ist so stur, so unberechenbar, so anders, als all diejenigen, die Julie bisher kannte. Und sie weiß, dass sie niemals eine Chance haben werden. Nicht nach dem Chaos, das Noah angerichtet hat. Nicht nach den Racheplänen, die er schmiedet. Doch w...