Kapitel 33

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Am Rande der Straße, wo sich das Sheriff Büro und gegenüber das Gerichtsgebäude von Morris befanden, standen hohe Masten an denen die oberirdische Stromleitungen befestigt waren. Wir parkten in einer breiten Straße, die von vielen Läden gesäumt war. Nur wenige Menschen liefen um diese Uhrzeit durch Downtown Morris. Kein Wunder, es war noch nicht Mittagszeit und unter der Woche hatten die Wenigsten frei.

Vor uns stand ein Haus mit Fensterläden, die dringend einen neuen Anstrich benötigten. Die alte Farbe blätterte bereits ab und ließ das Gebäude im krassen Kontrast zu der Grundy Bank stehen, die sich nur ein paar Schritte weiter im Nachbarhaus befand. Säulen verzierten das Bankgebäude und ließen es deutlich prächtiger wirken als all die anderen Häuser. Eine Uhr hing an der Fassade und von den grünen Markisen, die normalerweise das Sonnenlicht aussperren sollten, tropfte der Regen hinab.

Ich drehte meinen Kopf, um Jake sehen zu können. Seine Lippe war aufgeplatzt und sichtlich geschwollen.

In diesem Moment ließ sich Miles schwungvoll auf den Fahrersitz plumpsen. In seinen Händen hielt er Pizzakartons, aus denen ein Duft herausströmte, der mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

»Seid ihr euch sicher, dass wir hier essen sollten?«, fragte ich.

»Nein.« Miles reichte mir einen Pizzakarton. Demonstrativ guckte er Jake an, der mit hochgezogenen Brauen am Auto lehnte.

Unschlüssig hielt ich den warmen Pizzakarton in den Händen, während ich auf eine Reaktion von den anderen wartete.

»Uns zu kriegen, ist nicht Sache des Grundy County Sheriffs, also haben wir meiner Ansicht nach nichts zu befürchten.«, erklärte Jake und nahm einen Pizzakarton von Miles Stapel. Er reichte diesen zu Noah in den Chevrolet hinein. »Trotzdem sollten wir uns bedeckt halten.«

Dann hörte ich Noah etwas sagen, und kurz darauf tauchte Jakes Gesicht wieder neben Miles auf. »Noah denkt, ein SWAT-Team hat euch vor unserer Befreiungsaktion versucht zu stellen.«, sagte Jake an mich gewandt.

»Was ist ein SWAT-Team?« Ich runzelte die Stirn.

Plötzlich klappte eine Autotür.

»Soviel zum Thema sich bedeckt halten.« Jake atmete geräuschvoll aus, als Noah in mein Sichtfeld trat. Jetzt saßen Miles und ich als Einzige in einem Auto.

»SWAT heißt nichts weiter als ›Special Weapons and Tactics‹. Das ist eine Spezialeinheit für besondere Gefahrensituationen.«, klärte Noah mich auf. »Erkannt habe ich sie an den Maschinenpistolen und den Helmen.«

Ein wenig hilflos sah ich zu Miles.

»Sowas kann man nicht wissen, wenn man sich nicht irgendwann mal mit dem Thema beschäftigt hat.«, sagte dieser zu mir und beruhigte mich ein bisschen.

Ich dachte angestrengt nach. »Verhaftet wurde ich von einem Detective.«

»Sicher?«, fragte Jake.

»Todsicher.«, antwortete Miles. Den Ärger konnte man gut aus seinem Tonfall heraushören. »Ich nannte den Detective einen Officer, und er ist mir fast an die Gurgel gegangen.«

Noah verkniff sich ein Grinsen über Miles Bemerkung, bevor er fortfuhr: »Jedenfalls kümmert sich unter Garantie kein Sheriff mehr um diesen Fall. Wir stecken mittendrin, kennen die Hintergründe für unsere Taten, aber die Cops können keine Gedanken lesen. Außerdem werden sie uns keinen Glauben schenken. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen: Was wir tun, ist gefährlich. Das sind Straftaten. Also sollten wir davon ausgehen, demnächst mit einem Detective und seinem Team Bekanntschaft zu machen.«

Fast augenblicklich spürte ich, wie mir klamm wurde. All die Serien, die ich bislang im Fernsehen gesehen hatte, schienen Realität zu werden. Ich fühlte mich wie ein Schwerverbrecher. Der Appetit auf die Pizza verging mir schlagartig, und mein Magen rotierte als wollte er sich gegen meine Entscheidungen sträuben.

Mit einem Mal lastete eine ungeheuer Schwere auf unseren Schultern. Unbehaglich sah ich mich um. Die Uhr vor der Grundy Bank zeigte an, dass die meisten Angestellten bald Mittagspause hatten. Dass hieß, wir mussten sobald wie möglich weiterfahren.

»Ich frage mich, warum ausgerechnet wir uns das antun« Miles mied es, auch nur einen von uns anzugucken, »Aber das liegt wohl daran, dass wir besonders in diesem Fall sowieso schon so viel durchgemacht haben.«

Noahs Blick streifte meinen. In seinen Augen spiegelte sich Sehnsucht wider. Ich deutete ein sanftes Lächeln an, aber Noah erwiderte es nicht. Es schien ihn zu zerreißen.

Jake folgte meinem Blick und blieb an seinem besten Freund hängen. Wie ertappt guckte Noah weg. Er begann, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen zu treten, während ich die Augen erneut auf die Uhr an der Grundy Bank richtete. Die Zeit lief uns davon.

»Es hat sich nichts geändert.«, sagte Noah leise. Dann schaute er auf und begegnete unseren sorgenvollen Gesichtern mit neuem Mut. »Wir können uns jederzeit ergeben, doch einen weiteren Versuch, Menschenleben zu retten, kriegen wir nie wieder.«

»Sehe ich auch so.« Jake schob die Hände in die Hosentaschen.

Miles lehnte sich nachdenklich im Sitz zurück.

»Okay.«, sagte er.

»Ja, für mich hat sich auch nichts geändert.« Ich sah Noah an. Seine Haare waren zerzaust und er trug sein schwarzes T-Shirt, Jeans und Sneakers. Immer wieder ging mir durch den Kopf, wie nahe wir uns gestern noch gewesen waren. Es schmerzte, die Distanz zwischen uns zu spüren. Diese unberechenbare Ungewissheit ... Ich spürte, wie sie ununterbrochen an mir nagte und mich mit jeder Minute ein stückweit mehr auffraß.

Noah riss sich von unserem Blickkontakt los, um wieder ins Auto zu steigen. Jake und Miles klärten noch, wie sie fahren würden, und ich klappte lustlos den Pizzakarton auf. Mein Magen fühlte sich noch immer etwas labil an, doch ich würde Energie für den Nachmittag brauchen und das war wichtiger als all meine Sorgen.

Zehn Minuten später hatten wir unsere Pizzen aufgegessen und fuhren an der Post von Morris vorbei. Das große Gebäude war aus massiven, gelblichen Steinen errichtet. Einige Treppenstufen führten hinauf zu einer überdachten Eingangstür. Vor dem Gebäude flatterte die amerikanische Flagge im kühlen Wind.

Nach dem Tanken folgten wir der Illinois State Route 47 durch Morris. Der Regen kam fast senkrecht und die Scheibenwischer unseres Wagens arbeiteten auf Hochtouren. Trotzdem konnten Miles und ich kaum etwas sehen. Werbetafeln, Straßenschilder, Masten mit Stromleitungen und Häuser fügten sich zu einem verschwommenen Bild zusammen. Ein Meer aus warmweißen und knallroten Autolichtern tat sich vor uns auf, und Miles bremste reflexartig ab.

Erst auf der Brücke über dem Interstate 80 wurde der Regen etwas weniger, sodass der rauschende Verkehr mit seiner Lautstärke tatsächlich das Prasseln übertrumpfte. Der Himmel war eine einzige graublaue Front und kurz hinter Morris, als sich um uns herum nur noch Felder befanden, begann es wieder wie aus Eimern zu schütten.

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