Kapitel 21

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Es ruckelte kräftig. Immer wieder wurde ich durchgeschüttelt. Mein Rücken schmerzte und ich kratzte mich verschlafen an der Stirn. So benebelt und schwindelig musste man sich fühlen, wenn man sturzbesoffen war. Ich rieb mir über die Augen, bis ich langsam zu blinzeln begann. Der graubeige Himmel eines Autos trat in mein Sichtfeld. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich die Kopfstützen fokussierte und einen Hinterkopf mit schwarzen Haaren entdeckte. Plötzlich war ich hellwach.

In den darauffolgenden Minuten schwieg ich und bemühte mich, den Schwindel und meine Angst wieder in den Griff zu kriegen. Ich atmete tief ein, und wieder aus. Ganz ruhig, Julie, dachte ich, es wird alles gut werden. Nur keine Hektik.

Meine Gedanken überschlugen sich. Die Polizisten hatten mich höchstwahrscheinlich benutzen wollen, um Noah zu finden und herauszufinden, was er wusste, mit wem er sein Wissen geteilt hatte und so weiter. Aber warum lag ich nun auf der Rückbank eines völlig Fremden? Was wollte er von mir? Informationen? Wie würde er handeln, wenn er erst merken würde, dass ich ihm nicht im Geringsten etwas zu erzählen hatte?

»Bist du wach?« Seine Stimme war nicht so rau wie Noahs, sondern viel weicher ... Irgendwie angenehm.

Er fuhr eine scharfe Linkskurve, sodass ich mich zusammenreißen musste, keine Geräusche von mir zu geben.

»Ich höre dich atmen.«, sagte er.

»Und jetzt?« Ich bemühte mich, das Zittern zu unterdrücken, damit er nicht hörte, was ich für eine schreckliche Angst hatte.

»Jetzt können wir uns unterhalten.«, antwortete er gelassen.

Schweigend setzte ich mich auf. Schwarze Punkte kreisten vor meinen Augen und ein leichter Schwindel benebelte mir die Sinne. Es dauerte einige Minuten, bis ich wieder voll konzentrationsfähig war.

Der junge Mann hob die rechte Hand vom Lenkrad, nahm etwas vom Beifahrersitz und warf es zu mir nach hinten. Intuitiv fing ich das in meinen Händen knackende Etwas auf. Es entpuppte sich als eine Plastikflasche. Die Kohlensäure in dem Wasser ließ Bläschen aufsteigen, und ich spürte, wie sehr ich mich nach dem Prickeln des Wassers in meiner Kehle sehnte.

»Du musst etwas trinken, sonst kippst du noch um.« Der junge Mann drückte für einen Moment die Arme durch, während er das Lenkrad festhielt. Trotz seiner durchschnittlichen Statur konnte ich dabei deutlich die Muskeln seiner Oberarme erkennen.

Misstrauisch drehte ich die Wasserflasche in meinen Händen.

»Noah meinte schon, dass du skeptisch sein wirst.«, meinte er.

Ich riss die Augen auf.

»Noah?«, entfuhr es mir.

Er lachte. Es war ein schönes Lachen, und es wärmte mir das Herz.

»Ich bin ein Freund von ihm.«

»Wo ist er?« Die Aufregung ließ mein Herz wie verrückt gegen meinen Brustkorb schlagen.

Tausende Fragen fluteten meinen Kopf. »Wie heißt du? Hat Noah dich geschickt? Und wie, zum Teufel, bist du auf die Idee gekommen, zwei Cops auszuschalten?«

Sein Lachen wurde heftiger. Ich lächelte mit, weil er mich irgendwie ansteckte, und weil ich nicht glauben konnte, dass ich auf eine gewisse Art und Weise frei war. Eigentlich hatte ich gedacht, irgendwo im Gefängnis zu landen. Mindestens mit Sozialstunden hatte ich gerechnet. Rasen mähen auf dem Friedhof, Aushelfen im Kindergarten ... Und im schlimmsten Fall hatte ich erwartet, innerhalb der nächsten Stunden zu sterben und als anonyme Leiche irgendwo beerdigt zu werden.

»Trink etwas, dann reden wir.«, meinte der Freund von Noah. Er warf einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr. »Zwanzig Minuten müssen fürs Erste ausreichen.«

Ich drehte den Deckel der Flasche. Zischend befreite sich die Kohlensäure und das Wasser stieg bis zum Verschluss hinauf. Nach ein paar Sekunden konnte ich den Deckel endlich abnehmen, ohne dass uns das Mineralwasser entgegen spritzte. Ich setzte die Flasche an meine Lippen an. Langsam bewegte sich das erfrischende Wasser über meine Zunge, bis zu meiner Kehle und hinab durch meinen Hals. Das kratzende Gefühl verschwand durch jeden Schluck ein bisschen mehr, und ich trank in drei Zügen die gesamte Flasche aus.

Schwer atmend lehnte ich mich zurück. Ich fühlte mich ein bisschen so wie im Himmel. Das sanfte Prickeln in meinem Hals ebbte ab und mein Gehirn schien aufzuklaren, so als würden die Wolken verschwinden und mit ihnen der dichte Nebel, um Platz für die Sonne zu machen.

»Wie heißt du?«, fragte ich nach einer gefühlten Ewigkeit.

»Miles«, antwortete er.

»Okay.«

»Das wars schon?« Miles guckte zu mir nach hinten, »Gerade eben hattest du doch noch mehr Fragen.«

Ich nickte. »Schon, aber irgendwie muss ich erstmal atmen. Das war ganz schön viel auf einmal.«

»Ach, du meinst, wie ich die Cops ausgeschaltet habe? Nichts zu danken.«, witzelte er.

Fragend lächelte ich.

»Paradoxerweise hat ausgerechnet der Junge, dem ich es am wenigsten zugetraut habe, darauf bestanden, dass wir ein Mädchen retten.«, erklärte Miles. Er wurde ernst. »Noah hat gesagt, du hättest ihm das Leben gerettet. Ist das wahr?«

Schulterzuckend sah ich nach vorne. Unsere Blicke streiften sich im Rückspiegel.

»Danke«

Meine Wangen glühten. »Das war, nachdem mir Noah bestimmt dreimal das Leben gerettet hat. Ich stehe demnach noch immer in seiner Schuld.«

»Es tut ihm wahnsinnig leid, dich in diese Sache hereingezogen zu haben, Julie.«, sagte Miles.

Stumm nahm ich seine Worte hin. Ich betrachtete meine Beine. Die Jeans war definitiv nicht mehr zu retten. Blut und Dreck klebten an ihr. Zumindest an den Stellen, die noch heile waren. Der Rest war nämlich zerrissen und zerfetzt, als hätte eine Katze damit gespielt.

»Du fragst dich bestimmt, wo wir hinfahren«, meinte Miles nach einer Weile. »Noah und ich haben einen Treffpunkt ausgemacht. Wir sehen ihn dort und versuchen, uns erstmal einen Durchblick zu verschaffen.«

Ich bejahte, dachte allerdings noch immer über seinen Satz zuvor nach. Es tut ihm wahnsinnig leid, dich in diese Sache hereingezogen zu haben, Julie. Ich konnte nicht sagen, was diese Worte in mir auslösten, aber irgendetwas fühlte sich merkwürdig an. Nicht positiv, doch wütend war ich auch nicht.

... Vielleicht war das, was mich so vollkommen fremd am Herzen berührte, die Angst davor, dass Noah nur wichtig gewesen war, sein Gewissen zu erleichtern und mich nicht tatenlos dem Tod zu überlassen. Und obwohl es mir eigentlich mehr als nur recht sein sollte, dass er mich nicht als Teil seines Team sah, schmerzte der Gedanke trotzdem in meinem tiefsten Inneren.

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