Kapitel 68

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Ich war noch nicht mal annähernd in Jakes Nähe, als ein schrilles Klingeln ertönte. Schlagartig fuhr ich zusammen. Mein Herz raste. Ich fühlte mich, als würde ich gleich hyperventilieren. Jake war fort. Dafür war die Tür zum Supermarkt angelehnt. Menschenmassen stürmten heraus. In all der Panik erkannte ich Noah. Er ging rückwärts, weg von den Kassen, direkt auf mich zu. Ich wollte schon herausstürmen und ihn mit mir in Sicherheit bringen, da entdeckte ich einen Mann. Den Mann vom Foto. Edwin Hernandez.

Das Klingeln malträtierte weiter mein Trommelfell. Unterdessen steuerte Edwin Hernandez auf Noah zu. Sein Anzug war betongrau, sein Haar ordentlich zurückgekämmt. Die Schultern waren straff zurückgezogen, sein Gang war selbstbewusst und der Boden schien unter jedem seiner Schritte zu erbeben.

»Noah Johnson« Die tiefe Stimme jagte mir einen Schauder über den Rücken.

Noah hielt inne.

»Ich hatte nicht erwartet, dass du dich erinnern würdest.«, redete Edwin Hernandez weiter. »Doch jetzt, wo du schon mal da bist, habe ich ein Angebot für dich.«

Mein Atem stockte.

»Arbeite für mich.« Edwin Hernandez schritt auf Noah zu.

Dieser spannte sämtliche seiner Muskeln an. Seine Hände waren zu Fäusten geballt.

»Es wird dir an nichts fehlen.«, versprach Edwin Hernandez. »Du wirst dich niemals um Geld sorgen müssen. Oder um neue Aufträge. Du bekommst ein Haus, wie dein Onkel eines von mir bekam. Du kannst eine Familie gründen und mit dieser in Frieden alt werden.«

»Auf diese Weise hätte ich niemals Frieden.«, widersprach Noah.

Endlich blieb Edwin Hernandez stehen. »Doch. Du wirst erfahren, wie es ist, in Frieden zu leben. Ich kann dafür sorgen.«

»Wie Sie für meine Familie gesorgt haben?«, giftete Noah ihn an.

»Ich sorgte tatsächlich für deine Familie.«, entgegnete Edwin Hernandez ruhig. »Dein Vater hatte euch um euren ganzen Besitz gebracht.«

»Sie lügen.«

Für einen Moment sagte keiner etwas. Nur das schrille Klingeln des Brandmelders zerriss die Stille und zermürbte jeden, der es ertragen musste.

»Dein Vater investierte sein Geld an der Börse und verlor nach einigen Turbulenzen alles, was ihr je hattet.«, erzählte Edwin Hernandez.

»Mein Dad hat immer hart gearbeitet.«, sagte Noah. »Es gab bloß keine Aufträge mehr.«

»Ingenieure waren gesucht. Aufträge hätte es in Massen gegeben, hätte dein Vater nicht begonnen, aus all diesen Projekten und aus seinen Bauherren Profit zu schlagen, weil er finanziell am Ende war.« Edwin Hernandez beugte sich ein stückweit vor. »Dein Vater war ein Betrüger und sein Bruder sah sich gezwungen, die Fassade aufrecht zu erhalten. Er gab ihm Geld, kümmerte sich um seine Finanzen und redete mit deiner Mutter, die in Erwägung zog, sich scheiden zu lassen.«

Noahs Hände waren noch immer zu Fäusten geballt.

»Nachdem dein Vater einen meiner Klienten über die Klinge springen ließ, schaltete man mich ein. Ich sollte einen Auftragskiller auf deinen Vater ansetzen. Aber ich erkannte recht früh sein Talent im Beruf. Also machte ich ihm ein Angebot. Ich würde ihm so viel Geld überweisen wie er zum Leben brauchte, all seine Konten begleichen und den Bauherren Schadensersatz zahlen, die durch ihn Verluste erlitten hatten. Im Gegenzug brauchte ich jemanden, der mir ein paar Gefallen tat. Jemanden wie deinen Vater; Intelligent, die Gesetze und Gesetzeslücken kennend und ein großartiger, früher hoch angesehener Ingenieur, dazu bereit, unsere Geheimnisse für sich zu behalten.«

»Klingt doch perfekt.«, gab Noah sarkastisch von sich. Sein Tonfall verriet mir, dass er sich zu schützen versuchte. Er glaubte Edwin Hernandez kein Wort, bemühte sich, eine gewisse Distanz zwischen ihnen aufrecht zu erhalten, obwohl es um seine Familie ging.

»Dein Vater hat sich nicht an unsere Verabredung gehalten.« Edwin Hernandez packte Noah am Arm. »Er musste sterben.«

Noah erstarrte.

»Sie alle mussten sterben. Sie wussten zu viel.«, sagte Edwin Hernandez mit Nachdruck. Seine Knöchel wurden ganz weiß an Noahs Armen.

Ich hielt mich an der Tür fest und betete flehentlich, Noah würde etwas sagen. Bloß irgendetwas. Dass er sich weigern und dem Kerl widersetzen würde. Stattdessen war er wie gelähmt.

»Dein Vater war ein Betrüger.« Edwin Hernandez ließ Noah los, wich allerdings keinen Zentimeter zurück. »Du hast seine Intelligenz und seine Begabung geerbt. Du bist wertvoll für meine Firma. Ich kann dafür sorgen, dass du nicht mehr wegzulaufen brauchst ... Oder ich jage dich bis in alle Ewigkeit. Deine Wahl.«

Noah starrte ihn an. Edwin Hernandez Augen wirkten übernatürlich groß. Brutalität lag in seinem Gesicht. Gleichgültigkeit beherrschte seine Ausstrahlung. Eiskalte Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen. Vermutlich zerquetschte er in seiner Freizeit kleine Kätzchen mit der bloßen Hand. Verstümmelte die Leichen, die seine Auftragskiller übrig ließen, in seinem Wohnzimmer, hatte blutgetränkte Teppiche und Besteck aus Fingerknochen.

Eilig wischte ich diese Gedanken weg. Mich packte Wut. Und Angst. Was wäre, wenn Noah auf das Angebot einging? Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, inwiefern ich auf Noahs Instinkt vertrauen konnte. Er hatte so viel durchmachen müssen. In Frieden zu leben klang unendlich verlockend.

Ich öffnete die Tür, da zerrte mich jemand am Arm zurück. Jake.

»Wo warst du?«, fragte ich.

»Telefonieren.«, antwortete er knapp. »Was hast du vor?«

»Noah helfen.«

»Das tust du nicht.«, sagte er entschlossen.

Ich schnalzte mit der Zunge.

»Julie, ich habe mit Agent Roberts gesprochen. Er beeilt sich, herzukommen.« Jake schaute sich um. »Wo ist Miles?«

»Im Serverraum.«

»Fuck.«, stieß Jake hervor. »Julie, der Serverraum hat einen eigenen Brandschutzbereich!«

»Das heißt?«

»Wenn der Feueralarm ausgelöst wird, riegelt sich der Raum automatisch ab. Es wird sämtlicher Sauerstoff aus der Luft gesaugt, um das Feuer zu ersticken und die Technik zu schützen.«

Meine Pupillen weiteten sich. Ich hätte Miles niemals alleine lassen dürfen.

»Julie!«

»Okay, kümmere dich darum! Ich helfe Noah.«, wies ich todernst an. »Du hast gesagt, Agent Roberts beeilt sich. Ich will hoffen, dass das stimmt.«

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt