Kapitel 58

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Jetzt zitterte ich am ganzen Körper.

Noah machte einen Schritt auf mich zu und seine Hände fanden den Weg zu meinen Schultern. Sanft zog er mich an sich, doch ich war nicht mehr dazu im Stande, die Umarmung zu erwidern. Die Gedanken an meine Mum verketteten sich und ich hörte ihre Stimme bereits in meinem Kopf, wie sie sich mit Dad stritt, weil sie Angst vor dem Mörder hatte, von dem sie sicherlich in Zeitungen und im Fernsehen berichtet hatten. Ich konnte förmlich vor meinem geistigen Auge sehen, wie sie zusammenbrach. Ich sah, wie sich mein Dad auf die Knie fallen ließ und mich panisch anschrie, wie ich ihnen das hätte antun können. Und es brach mir nicht nur das Herz wie die Trennung von Noah. Es riss mich entzwei.

Langsam ließ mich Noah los. Seine Augen wirkten düster. Die Zärtlichkeit war verschwunden und seine Gesichtszüge wurden finsterer. »Du lässt dich nicht mal mehr von mir in den Arm nehmen.«

Ich blinzelte die Tränen weg, die sich unter meinen Lidern gesammelt hatten. »Es tut mir so leid, Noah.«

Er schien meine Worte jedoch kaum mehr wahrzunehmen. Für einen Moment wirkte er wie in Trance. Dann schlugen seine Gefühle um, und anstelle der Ausweglosigkeit und unerträglichen Dunkelheit in seinen Augen erkannte ich plötzlich pure Verzweiflung.

»Ich würde mir in der Nähe deiner Uni oder in eurer Stadt eine Wohnung suchen.«, sagte er und gab sich alle Mühe, überzeugend zu wirken. »Oder wir führen eine Fernbeziehung.«

»Fernbeziehungen gehen sowieso irgendwann schief.« Ich blickte Noah tief in die Augen. »Du bist so ein wunderbarer Mensch, intelligent, talentiert ... Denk mal darüber nach, was du für ein tolles Leben führen könntest.«

»Weshalb sollte eine Fernbeziehung nicht funktionieren?«, warf Noah ein. »Wir haben eine Flucht durchgestanden. Du hast mir das Leben gerettet und ich deins. Das bedeutet doch was.«

»Vielleicht.«, sagte ich zögerlich. »Andererseits werden wir ständig neue Menschen kennenlernen. Du wirst-«

»Erzähl mir jetzt nicht, ich werde jemand anderes, jemand besseres oder was auch immer kennenlernen.«, beschwerte sich Noah genervt.

Ich biss mir auf die Lippe.

»Wir kannten das Risiko von Anfang an. Es hat sich nichts geändert. Also mag sein, dass einer von uns morgen oder übermorgen stirbt oder ich ins Gefängnis gehen muss. Oder dass mich deine Familie hasst. Oder dass wir uns auseinanderleben und einander irgendwann nicht mehr lieben können. Aber wir müssen doch nicht heute schon damit rechnen.«, sagte er flehentlich.

Sofort musste ich an Miles denken. Ich hatte tatsächlich gewusst, worauf ich mich eingelassen hatte, und ich hatte nicht darüber nachgedacht, dass ich Noah in jedem Fall das Herz herausreißen und darauf herumtrampeln würde. Ob heute oder irgendwann später, wenn ich einer Vorlesung lauschte, war vollkommen egal. Es würde so kommen. Und ich würde es an diesem Tag keine Sekunde länger aushalten, Noah etwas vorzumachen. Denn das täte ich, in dem ich ihn küsste oder seine Hand hielt.

»Julie, bitte. Lass es uns versuchen.« Noah sah aus, als könnten ihn seine Beine nicht länger tragen. Seine Stirn hatte tiefe Furchen und all die Leichtigkeit, die ich durch ihn erfahren hatte, verblasste.

Ich wischte mir über die Augen und kehrte Noah hastig den Rücken zu. Zu sehen, was ich ihm angetan hatte, ließ mich verkrampfen. Mein Bauch schmerzte heftig, aber ich durfte nicht aufgeben. Selbst, wenn Noah für immer das einzige bleiben würde, was ich wirklich wollte, konnte ich heute nicht egoistisch sein.

»Unsere Wege gehen in unterschiedliche Richtungen.«, begann ich möglichst diplomatisch, ehe ich mich Noah wieder zuwendete und mich der Schmerz, ihn zu verlieren, heftiger traf als ich je vermutet hätte. »Das Schicksal ist nicht auf unserer Seite!«

»Ich scheiße auf das Schicksal!«, sagte Noah mit erstickender Stimme. »Denn ich habe absolut niemanden mehr. Ich habe nichts zu verlieren! Und mein Weg ... geht in überhaupt keine Richtung.«

Ich erstarrte. Genau davor hatte ich solch eine wahnsinnige Angst gehabt. Davor, Noah schrecklich wehzutun, indem ich ihn in absehbarer Zeit sowieso verlassen müsste. Gründe dafür gab es genug - dagegen nur einen einzigen, zu bleiben; Unsere Liebe, die ich nun ebenfalls zerstörte.

»Hast du mal daran gedacht?«, riss mich Noah aus den Gedanken. Seine Augen durchbohrten mich.

Mit schmerzendem Herzen ließ ich mich aufs Bett fallen. Das Foto fiel von der Kante und zog Noahs Aufmerksamkeit auf sich. Bevor ich auch nur irgendwas unternehmen konnte, hatte er sich bereits danach gebückt und betrachtete es eingehend. Als sein Blick zu mir schweifte, standen Tränen in seinen Augen.

Ich riss mich zusammen und beugte mich nach vorne, wo Noah auf dem Boden kniete.

»Das stammt aus dem Haus deines Onkels. Ich wollte es dir geben, aber dann kamen wir ins MCC und irgendwie-« Ich stoppte sofort, als ich spürte, wie mich sein Blick streifte.

Noah guckte mich an, und es versetzte mir einen Stich, wie gebrochen er aussah.

»Irgendwie ist das Foto in die Kisten von Agent Roberts gelangt. Miles hat es gefunden.«, erklärte ich vollkommen ehrlich.

»Miles?«

»Darum waren wir gemeinsam in der Küche.«, fügte ich hinzu. »Er hat mich mit dem Foto konfrontiert und mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich dich letztlich total verarsche mit all dem hier.«

Ich schlug die Hände vor mein Gesicht. Tiefe Schluchzer erschütterten meinen Körper.

»Du wolltest mit mir Schluss machen, weil Miles mit dir gesprochen hat?«, hakte Noah nach, und seine Stimme jagte mir einen Schauder über den Rücken.

»Er hat doch recht! Was hat unsere Beziehung für einen Sinn, wenn ich wieder nach Hause gehe, an die Schule und im Herbst zur Uni, und wir uns kaum noch sehen?«, brachte ich unter Tränen hervor. »Meine Mum ist krank und kann keinen Stress vertragen. Und was meinst du, wie sie dich im Fernsehen oder Radio dargestellt haben? Du bist nicht gerade als der Traum-Schwiegersohn bekannt.«

Noah schnaubte. »Das hast du mir vorhin nicht gesagt.«

»Warum wohl?« Ich nahm die Hände von meinem Gesicht und starrte ihn an. »Ich will nicht, dass du dich schlecht oder minderwertig fühlst, nur weil irgendwelche Leute ihre Zeitungsartikel besser verkaufen können, wenn sie einen Buhmann haben. Außerdem sieht es wirklich mies aus für dich, da brauchen wir uns nichts vorzumachen.«

»Und du lässt mich deswegen fallen?«, fragte er. »So wie alle anderen Menschen, die diese Artikel lesen?«

Schlagartig wurde mir schwindelig.

»Nein!«, widersprach ich.

»Doch. Du lässt mich genau so fallen wie alle anderen auch.«, sagte er bitter.

»Nein, so war es nicht.« Erschöpft atmete ich durch. »Ich will meiner Mum den Ärger ersparen.«

»Deiner Mum, oder dir selbst, Julie?« Noah sprang auf.

Ich hastete ihm nach, als er die Tür aufriss und im Flur verschwand.

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt