Kapitel 42

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Leise knirschte der steinige Boden unter unseren Schuhsohlen. Die Luft war noch erstaunlich warm von der brütenden Hitze des Vortages.

Noah und ich gingen einige Meter den von hohen Bäumen und Dickicht umgebenen Feldweg entlang, achteten jedoch stets darauf, uns nicht allzu weit vom Auto zu entfernen. Als das Gestrüpp weniger wurde, setzten wir uns am Rande des Weges ins Gras und starrten in die endlose Weite, die sich vor uns aufgetan hatte. Eine große, grüne Wiese befand sich dort, wo unsere ausgestreckten Beine endeten. In der Morgendämmerung sah ich den Horizont und den Himmel, dessen Graublau sich allmählich gelblich verfärbte.

Noah winkelte seine Beine an, um sich zum ersten Mal die entzündete Wunde anzusehen. Vorsichtig krempelte er das Hosenbein hoch und tastete die gerötete Haut seines Schienbeins und die Striemen an seiner Wade ab.

»Du solltest die Salbe draufschmieren, die Jake mitgebracht hat.«, riet ich ihm.

»Sobald wir wieder im Auto sind.« Noah senkte den Blick und wechselte das Thema. »Du hast im Schlaf geweint.«

»Ich habe von meiner Familie geträumt.«, erzählte ich leise.

»Du kannst jederzeit zurück.« Noah sah mich von der Seite an. »Niemand würde es dir übel nehmen.«

»Dafür ist es längst zu spät.«, murmelte ich.

»Nein. Julie ...« Noah versuchte, meinen Blick einzufangen. Die Ernsthaftigkeit in seinen Augen überzeugte mich beinahe. »Es ist nicht zu spät.«

Mein Magen rotierte. Ich verkrampft mich, und schließlich platzte es aus mir heraus.

»Ich habe einen Menschen getötet.« Schlagartig riss ich die Hände hoch und schlug sie mir vors Gesicht. Tränen quollen zwischen meinen zusammengepressten Lidern hervor und befeuchteten meine Haut bis hinab zu meinen Lippen, wo sie einen salzigen Geschmack hinterließen.

»Du warst bewusstlos.«, schluchzte ich. »Und sie haben auf uns geschossen.«

Noah schlang seine Arme um meinen zitternden Körper und zog mich dicht an sich. Sein heißer Atem streifte meine Stirn und seine Bartstoppeln kitzelten meine Wange.

Ich ließ die Hände von meinem Gesicht sinken und presste den Kopf gegen seine Schulter.

»Ich habe geträumt, dass meine Eltern und mein Bruder weiterleben. Das tun sie schon die ganze Zeit, ich weiß ...« Außer Atem machte ich eine Pause. »Aber sie werden mich vergessen.«

Noah drückte mich fester an sich. »Sie vergessen dich nicht. Das war nur ein Albtraum.«

»Was, wenn doch?«

»Niemand vergisst sein Kind.«, flüsterte Noah so bestimmt, dass ich es ihm bedingungslos glaubte.

»Der Mann, der jetzt tot ist, hatte vielleicht auch Kinder.« Mein Körper erbebte unter den schrecklichen Wellen des Schmerzes. Ich konnte nicht fassen, dass ich jemandem das Leben genommen hatte, obwohl ich mir zwischenzeitlich eingebildet hatte, es würde sich gar nicht so entsetzlich anfühlen. Mit einem Mal war es wieder so unbegreiflich wie vor ein paar Stunden. Wahrscheinlich würde es sich in fünf Jahren noch genau so anfühlen.

»Wie soll ich das aushalten?«, brachte ich keuchend hervor.

Noah streichelte meinen Oberarm. Tiefe Schluchzer erschütterten mich.

»Der Mann, der nun tot ist, hätte garantiert ohne zu zögern auf euch geschossen, Julie.«

»Hat er sogar.« Mein Kopf schmerzte.

»Die sind skrupellos.«, sagte Noah leise. »Denk mal daran, was sie meiner Familie angetan haben. Denk an all die Menschen, die wegen ihnen sterben mussten. All das Leid, was Bruce Edwards ausgelöst hat und wie er Angehörige, Brüder, Schwestern, Ehefrauen, Kinder quält.«

Ich holte tief Luft, während mir plötzlich bewusst wurde, dass ich um einen von den Menschen weinte, die Noahs Familie getötet hatten.

»Entschuldige.«, schniefte ich und versuchte, mich vor Scham aus Noahs Armen zu befreien.

»Was tut dir leid?« Noah ließ mich nicht gänzlich los, sondern lockerte bloß seine Arme um meinen Körper, um mir etwas Freiraum zu geben.

»Dass ich um einen Kerl weine, der eventuell zu den Mördern deiner Familie zählt.« Ich klemmte mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Das ist so furchtbar unsensibel.«

Er lächelte traurig und stoppte seinen Daumen, mit dem er bislang über meinen Arm gestreichelt hatte. Aufmerksam guckte Noah mich an. Es fiel mir schwer, seinen Blick zu erwidern, weil mir immer bewusster wurde, wie wunderbar und verständnisvoll er war, während ich ihm die Ohren voll heulte.

»Tut mir leid«, wiederholte ich.

»Das ist schon okay.«, sagte er.

Starr blickte ich zum Horizont, wo sich das gleißend helle Sonnenlicht staute. Wenige Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg über die Wiese, über jeden einzelnen Grashalm, bis hin zu uns. Der Himmel war nun in ein kräftiges Orange getaucht, während über uns bereits tiefblaue, teils graue Wolken aufzogen, die in weiter Ferne gräuliche Schlieren an den Himmel zauberten. Es sah faszinierend und absolut malerisch aus.

»Die Situation ist nicht einfach für dich, ich verstehe das.«, sagte Noah nach einer Weile. »Die Tatsache, dass der Mann definitiv kein guter Kerl war und anderen das Leben zur Hölle gemacht hat, ändert ja nichts daran, dass er ein Mensch war.«

»Er hatte auch mal Eltern, eine Mutter ... Familie.«, fügte ich hinzu und schämte mich sogleich dafür, dass ich mich erst für mein Verhalten entschuldigte und nun schon wieder von diesem Mann sprach.

»Nichts könnte den Tod eines Menschen rechtfertigen.« Noah schluckte schwer.

»Miles sagt, er bereut jeden Tag, tatenlos zugesehen zu haben, als sein Freund jemanden getötet hat.«, sagte ich und klang dabei so ängstlich wie ich mich auch fühlte, sobald ich an die Zukunft dachte. Die Schuld, die ich mein Leben lang mit mir herumtragen würde, nagte schon heute ein riesengroßes, klaffendes Loch in mein Herz.

Noah öffnete den Mund, doch ließ ihn kurz darauf wortlos zufallen.

»Miles hat dir davon erzählt?«, wollte er wissen.

Ich bejahte.

»Er scheint dir sehr zu vertrauen.«, meinte Noah und legte einige Sekunden später seine Stirn in Falten. Nachdenklich löste er den rechten Arm von meinem Körper, brachte dadurch Distanz zwischen uns, und begann, vollkommen willkürlich der Wiese ihre Grashalme auszurupfen und diese wieder fallen zu lassen. Ich beobachtete seine ruckartigen Zupf-Bewegungen, die für mich nach einer Wut aussahen, die ich nicht verstehen konnte. Langsam ließ ich meinen Blick hinauf zu seinem Gesicht gleiten. Meine Augen fühlten sich noch immer geschwollen und verweint an, aber meine Sicht war glasklar. Ich mochte jedes Detail an Noah. Seine damals so makellose Haut, die mittlerweile von etlichen Schrammen und Kratzern geziert war. Seine widerspenstigen Haare, die sich nicht in eine Richtung kämmen ließen, sondern stets ein wenig zerzaust aussahen, so als wäre Noah gerade einem kräftigen Orkan entkommen. Seine grünen Augen, die im Sonnenlicht wie zwei Edelsteine glitzerten und in der Dunkelheit so düster und magisch aussahen. Ich liebte seinen Duft, der mir alle Sinne raubte und seine Stimmfarbe, die mir stets eine Gänsehaut verpasste. Darum stellte sich mir eine unausweichliche Frage: Wie sollte ich je wieder ohne ihn leben können?

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt