Kapitel 72

1K 76 14
                                    

Noahs Augen hafteten auf meinen. Er saß mir gegenüber am Tisch im Konferenzraum des FBI Field Office in Chicago. Wir hatten soeben unsere Aussagen gemacht und den Deal unterzeichnet, den Agent Roberts für uns ausgehandelt hatte. Seit exakt fünf Minuten und achtundzwanzig Sekunden befanden wir uns in Freiheit und doch füllte eine unbekannte Enge meine Brust.

»Du warst großartig.«, sagte Noah.

»Du auch.«

»Danke.« Er hüstelte. Seine Augen gingen zur Tür, durch die Agent Roberts eilig den Raum verlassen und uns somit alleine gelassen hatte. Bestimmt war er mit den ausgefüllten Dokumenten und der Festplatte schon im Büro seines Kollegen angekommen.

Ich spielte mit meinen Fingern. »Nimmst du es mir noch übel, dass ich hinsichtlich uns absolut keine Ahnung hatte, was ich wollte?«

»Du wirktest sehr entschlossen.«, meinte Noah schwer schluckend.

Niedergeschlagen senkte ich das Kinn. Ich fürchtete mich vor diesem Gespräch, obwohl es bereits begonnen hatte. Was auch immer ich sagte, machte mich angreifbar. Andererseits würde ich kommende Nacht schon auf dem Weg nach Hause sein. Dann würden etliche Meilen zwischen Noah und mir liegen. Es würde genau das passieren, wovor ich solche Angst gehabt hatte. Ich würde ihn verlieren. Aber nicht auf die Weise, wie ich es mir ausgemalt hatte, sondern, weil ich mich nicht getraut hätte, ihm ein letztes Mal in aller Ruhe meine Gefühle zu gestehen. Und dann würde mich jedes ungesagte Wort auf meinem Weg begleiten und ich würde mein Leben lang bereuen, nicht den Mund aufgemacht zu haben.

Ich holte Luft und guckte wieder hoch. Noahs Brauen gingen in die Höhe. Mein Herzschlag beschleunigte sich.

»Bitte, sieh mich nicht so an.«, sagte ich und wich seinem Blick aus. Ich wünschte, ich könnte ihm irgendetwas plausibles erzählen, doch stattdessen sah ich bloß immer wieder die Schrammen in seinem Gesicht und die Blutergüsse an seinem Hals. Sie ließen mich schrecklich fühlen. Irgendwie schuldig.

Noah lehnte sich im Stuhl zurück. Die Stille im Raum nagte an mir. Ich sah zum Fenster und hinaus auf das Parkdeck eines Nachbargebäudes. Einige Bäume befanden sich davor.

»Was soll ich tun, wenn ich dich nicht mal mehr ansehen darf?«, fragte Noah leise.

Ich spürte einen Kloß in meinem Hals. »Du darfst mich ansehen.«

»Offenbar ja nicht.« Sein Tonfall war bitter.

»Doch.« Ich stand auf und kniete mich vor ihm auf den Fußboden. »Natürlich darfst du mich ansehen.«

Unsere Augen fanden sich. Ich legte die Hände in seinen Schoß und er hielt sie fest. Seine Berührung jagte einen Blitz durch meinen Körper. Eine wohlige Wärme breitete sich in mir aus und mit jeder Sekunde, die ich in seine grünen Augen blickte, verliebte ich mich mehr in ihn. Meine Gedanken verketteten sich.

»Du bringst mich durcheinander.«, murmelte ich. »Ich vergesse alles um uns herum, wenn du mich ansiehst. Das darf ich nicht. Nicht in so einer Zeit.«

»Es ist vorbei.« Er nahm meine Hände von seinem Schoß und zog mich hoch, sodass ich auf seinen Oberschenkeln zu sitzen kam. Sanft berührte er mein Knie. Die Sanitäter hatten meine Beine gut verbunden, aber die Haut darunter war noch immer so empfindlich, dass ich selbst bei jedem kleinsten Druck eine Schmerzwelle durch meinen Körper jagen spürte.

Ich schlang meine Arme um ihn und schmiegte meine Wange an seine Schulter. Die Bartstoppeln seines Kinns kitzelten meine Stirn.

»Hast du das wirklich ernst gemeint? Die ... drei Worte gestern?« Sein heißer Atem streifte mein Ohr.

»Was meinst du?«, flüsterte ich und genoss, wie nahe wir uns waren. Er duftete so wohlig, so bekannt, so ... wunderbar.

»Ich habe mich gefragt, ob du das ... ›Ich liebe dich‹ ernst gemeint hast?« Er hielt die Luft an und ließ sie langsam wieder entweichen. »Denn ich könnte verstehen, falls es ein Reflex war. Immerhin war ich drauf und dran- ... Du weißt schon.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, dass Noah überhaupt mitbekommen hatte, was ich gefaselt hatte, nachdem er dem Mörder seiner Familie das Licht hatte ausknipsen wollen.

Ich nahm den Kopf von seiner Schulter und legte eine Hand an seine Schläfen. Vorsichtig fuhr ich die Konturen des Blutergusses nach. So etwas hätte nicht passieren dürfen. Angesichts der vielen gefallenen Schüsse erleichterte es mich trotzdem, dass nichts schlimmeres geschehen war.

Kurz blickte ich an Noah vorbei zum Fenster. Dann sah ich ihn wieder an und nickte fast unmerklich. »Ich habe es ernst gemeint.«

Er wirkte überrascht, bemühte sich allerdings, dies gut zu verbergen.

Mutig schaute ich ihm in die Augen. »Ich liebe dich.«

Seine Miene hellte sich auf.

»Mann, du bist echt furchtlos.«, sagte Noah beeindruckt.

»Bin ich nicht.« Ich stupste ihn an. »Komm, lass mich nicht so zappeln.«

Jetzt entlockte ich ihm ein raues Lachen.

»Noah«, zeterte ich und zog seinen Namen dabei in die Länge.

»Julie, ich liebe dich.« Er beugte sich vor und ließ eine Hand in meine Haare gleiten. »Ich bin verrückt nach dir.«

Mein Herz hämmerte gegen meine Brust. Lächelnd biss ich mir auf die Lippe und blinzelte die Tränen aus meinen Augen. Das Glück drohte, mich zum Platzen zu bringen. Es erfüllte mich und ich verspürte keinerlei Sorgen. Bloß die Sehnsucht nach seinen Lippen auf meinen.

Ungeduldig zog ich ihn näher an mich heran. Unsere Münder streiften sich. Zuerst zaghaft, fast ein bisschen schüchtern wie unser allererster Kuss. Danach wilder, gieriger, bis sie rückhaltlos miteinander verschmolzen.

»Ich habe dich vermisst.«, flüsterte ich, als wir uns wieder in die Augen blickten. Atemlos drückte ich ihm einen weiteren Kuss auf die Lippen.

»Warte« Noah löste sich ein wenig von mir. Mit einem Mal wirkte er noch erwachsener, noch ernster. Ich erkannte all die Narben der Vergangenheit, die ihn so sehr gezeichnet hatten.

Fragend guckte ich ihn an.

»Bist du dir sicher?« Die Worte über seine Lippen zu bringen, schien ihn alle Kraft zu kosten.

»Sicher?«, hakte ich vorsichtig nach und seufzte. »Sicher damit, dass ich dich liebe? Das hatten wir schon.«

»Ob du trotz all deiner Zweifel mit jemandem wie mir zusammen-«

»Hey«, unterbrach ich ihn und strich ihm zärtlich über das Haar. »Wir schaffen das. Krieg jetzt bloß keine kalten Füße.«

»Kriege ich nicht, wenn du auch keine kriegst.«, versprach er.

Dann räusperte Noah sich. »Na ja, wo das geklärt ist, wäre es wohl der richtige Zeitpunkt, dich auf ein Date einzuladen.«

Überrascht guckte ich ihn an. Langsam begannen meine Wangen zu glühen.

»Was?«, raunte er mir frech ins Ohr. »Hast du etwa schon Angst bekommen, dass ich dich fragen würde, ob du für immer an meiner Seite bleibst?«

Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus. Ich liebte, was seine Stimme mit mir anstellte.

»Für immer wäre mir persönlich ja zu kurz.« Ich setzte mein verführerischstes Lächeln auf. »Aber meinetwegen ... Lass uns mit einem Date anfangen.«

Unser erstes Date. Ganz offiziell.

Er lachte auf. Seine Finger vergruben sich in meinem Haar und er presste seine Lippen leidenschaftlich auf meine. Das Glück strömte weiter durch meine Venen. Und ich war vermutlich das glücklichste Mädchen auf diesem Planeten.

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt