Kapitel 39

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»Heilige Scheiße.«, stieß Jake hervor und distanzierte sich mit einem schnellen Schritt wieder von uns. Miles stieg aus. Das Klappen der Autotür kam nur dumpf bei mir an, denn all meine Aufmerksamkeit galt Noah. Er blinzelte, doch konnte seine fiebrig glänzenden Augen kaum offenhalten. Liebevoll drückte ich seine Hand und beugte mich vor, um ihm zu helfen, sich aus der unbequemen Sitzposition zum Liegen zu bringen.

»Alles wird gut.«, versprach ich. Eine Träne kullerte über meine Wange und tropfte auf Noahs erhitzte Haut.

»Julie!«, rief Jake.

Ich zog mich zurück und drückte die Autotür zu, nachdem ich ausgestiegen war. Der Boden knirschte unter meinen Sohlen. Jake stand abseits des Wagens und wartete ungeduldig. Sein Fuß wippte auf und ab, während Miles eine beschwichtigende Geste machte, um seinen Freund runterzubringen.

»Was tun wir jetzt?«, fragte Jake, kaum dass ich ihnen gegenüber stand. Der Chevrolet war nun ganze zwei Meter von uns entfernt und ich fühlte mich unwohl mit dem Gedanken, Noah alleine zu lassen. Sei es auch nur für fünf Minuten.

»Das ist ja wohl ganz klar.«, sagte ich ernst. »Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen.«

»Ins Krankenhaus?«, wiederholte Jake ungläubig. Er tat, als hätte er sich verhört. »Und wie, Julie, stellst du dir das vor?«

»Wir setzen uns ins Auto und fahren los.«, antwortete ich prompt.

Miles Augen weiteten sich. »Können wir nicht irgendetwas anderes tun?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Jake ignorierte Miles. »Was willst du denn sagen, wenn sie fragen, wer wir sind? Wir haben keine Versichertenkarte, keine Ausweise, nichts! Ich meine, selbst wenn wir welche hätten, würde es nichts bringen. Bestimmt hängen überall Phantombilder von uns! Kannst du dir auch nur annähernd vorstellen, was uns dort erwartet?«

»Natürlich kann ich das!« Ich stemmte die Arme in die Hüften.

»Die werden uns sofort in den Knast stecken ...«, murmelte Miles in seiner Verzweiflung. »Ohne Wasser oder eine Toilette. Sie werden uns foltern.«

»Vielen Danke für die Veranschaulichung!«, zischte Jake.

»Du weißt, dass sie das nicht tun werden.«, sagte ich an Miles gewandt. Er war völlig fertig. Ebenso wie vor dem Mittagessen, als Jake ihn am Grundy County Sheriff Büro vorbei gelotst hatte. Es verwunderte mich, denn immerhin hatte ich Miles immer als den Ruhigen von uns eingeschätzt. Irgendetwas stimmte nicht.

Ich atmete tief durch und legte für einige Sekunden den Kopf in den Nacken. Vereinzelte Sonnenstrahlen brachen durch die Wolken. Die Wärme ließ mich fast in Schweiß ausbrechen. Vielleicht lag es auch an unserem hitzigen Gespräch.

»Wir müssen eine Entscheidung treffen.«, drängte Jake.

»Was willst du hören?«, rief ich aufgewühlt und guckte ihn wieder an. »Du brauchst nicht Medizin studiert zu haben, um zu sehen, dass Noah Hilfe braucht.«

Er fasste sich an die Stirn, als hätte ich soeben etwas vollkommen lächerliches von mir gegeben. »Julie, verstehst du nicht, dass wir Noah zwar retten, aber dafür unser Leben lang ins Gefängnis gehen werden?«

»Ich frage mich viel eher, ob du nicht verstehst, dass du deinen besten Freund auf dem Gewissen haben wirst, wenn du jetzt nicht handelst?!«, fuhr ich ihn an. Mein Blut begann zu kochen.

Jake trat näher. Sein Kehlkopf stach deutlich hervor. Ich konnte sehen, wie die Ader an seinem Hals zu pochen begann. »VERDAMMT!«, schrie er. »Wir alle werden im Knast verrecken! Das war niemals, was Noah gewollt hätte!«

»Dann erzähl mir mal, was die Alternative ist!«, fauchte ich. »Wirst du warten, bis sein Herz aufhört zu schlagen und er seinen letzten Atemzug tut? Gräbst du ihn hier auf dem Weg ein oder fahren wir noch ein Stück, damit niemand seine Leiche findet?«

Wutentbrannt stürmte Jake auf mich zu. Meiner Kehle entfloh ein schrilles Quietschen. Ich stolperte instinktiv zurück, doch er packte mich an den Schultern und stieß mich zurück, bis ich gegen die Motorhaube knallte.

»Du bist so widerwärtig!«, keuchte ich.

»Ach ja? Du erzählst doch, wie sein Tod ablaufen wird!«, schrie er und starrte mich aus funkelnden, braunen Augen an. So nah war ich Jake nicht einmal im Lagerraum von Bruce Edwards Leuten gewesen. Da hatte er mir noch das Leben retten wollen, jetzt sah das ganze anders aus.

»Hey!« Miles schob seine Hand in die schmale Lücke zwischen unseren Körpern.

Jake ließ mich abrupt los und entfernte sich von uns. Seine dunkelblonden Haare waren zerzaust und seine Atmung ging schnell. »Macht, was ihr wollt!«, presste er zähneknirschend hervor.

»Gut.«, feuerte ich zurück.

Miles hob beschwichtigend seine Hände. »Das ist doch nicht hilfreich!«

»Ach, war es etwa hilfreich, über Gefängnisse zu reden und zu verzweifeln, ehe wir uns überhaupt entschieden haben?«, entgegnete Jake trocken. Seine Wut war verblasst. Stattdessen sah ich Schmerz in seinem Gesicht.

»Noah ist so etwas wie mein Bruder« Jake wandte sich mir zu. Mit einer wahnsinnigen Entschlossenheit guckte er mich an. »Ich würde ihn niemals dem Tod überlassen, gäbe es eine andere Chance.«

»Es gibt eine andere Chance.«, widersprach ich leise.

»Wir haben uns geschworen, einander gehen zu lassen, falls es soweit kommen sollte. Wenn es hier um mein Leben ginge, würde er wissen, dass mir mein Leben nicht viel wert wäre, würde ich damit seines aufs Spiel setzen.«, sagte Jake. »Zu viert im Knast erreichen wir nichts! Denkt mal daran, warum Noah diesen Plan hatte.«

»Er hat mich gerettet. Das würde er auch für euch beide tun.«, wechselte ich die Thematik und blickte zwischen Jake und Miles hin und her. Tränen schossen mir in die Augen und meine Stimme drohte zu brechen. »Noah hat wahrscheinlich eine Blutvergiftung. Mein Dad hatte auch mal eine ... Wir brauchen bloß einen Arzt. Meinetwegen eine kleine Praxis. Irgendjemanden, der Ahnung hat und uns irgendwie helfen kann.«

Hilflos sah ich die beiden an. Mein Magen war verkrampft. Die Angst ließ mein Herz rasen. Noah durfte nicht sterben. Das Risiko, erwischt zu werden, war gefährlich hoch, aber ich konnte nicht anders. Er hatte mir mein Leben gerettet. Also ganz egal, wie viel Zeit wir miteinander verbrachten, ob wir in einem Auto saßen oder nicht; Ich würde nun alles für ihn geben, so wie er alles für mich gegeben hatte. Es würde mich zerreißen, müsste ich zusehen, wie wieder jemand, den ich liebte, mit dem Leben kämpfte, und es würde mich umbringen, nichtstuend dabei zu sein, wenn Noah an diesem Tag starb.

Miles und Jake sagten kein Wort. Als ich das Gefühl hatte, niemand würde mich begleiten, marschierte ich schnurstracks zum Auto und öffnete die Fahrertür. Heiße Tränen brannten in meinen Augen und ich gab mein Bestes, sie irgendwie zu verbergen. Miles rannte mir nach. Er packte mich am Arm und hielt mich zurück. Noch immer sah ich eine unbändige Furcht in seiner Mimik.

»Was ist nur los mit dir?«, flüsterte ich besorgt.

Er räusperte sich und guckte mich angespannt an. »Ich darf auf keinen Fall festgenommen werden.«

»Ich verstehe das nicht ... Vorhin war es auch kein Problem.«, sagte ich irritiert.

»Vorhin hätte niemand die Cops gerufen. Wäre die Polizei gekommen, wären Edwards Leute auch dran gewesen. Das Problem ist ...« Miles holte tief Luft und heftete seinen Blick auf den Chevrolet. »Ich bin vorbestraft. Ich darf mir absolut nichts zu schulden kommen lassen. Keine Kleinigkeit, erstrecht keinen Mord, wirklich gar nichts

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt