Als ich wach wurde, dämmerte es bereits. Vereinzelte Vögel zwitscherten und der Wind rauschte leise. Blinzelnd sah ich mich um, und stellte fest, dass Noah nicht mehr neben mir lag. Seine Wasserflasche lag achtlos auf der Rückbank und eine weiche Stoffdecke umhüllte meinen Körper.
Gähnend streckte ich mich. Dann trank ich einen Schluck, bevor ich mich an mein neues Morgenritual machte. Es war längst nicht so bequem, sich auf einer Rückbank in ungewaschener Kleidung frisch zu machen wie in einem abschließbaren Badezimmer mit Dusche, aber es funktionierte. Irgendwie schaffte ich es sogar, meine Haare ohne Spiegel zu einem Zopf einzuflechten. Danach aß ich etwas und schaute mich um. Von den Jungs war keine Spur zu sehen.
Fröstelnd legte ich mir die Decke um die Schultern und machte mich auf den Weg zum anderen Auto. Auch hier war keine Menschenseele vorzufinden.
Langsam begann ich, mir Sorgen zu machen. Mein letzter Anlaufpunkt war der See. Je näher ich kam, desto deutlicher hörte ich das Plätschern von Wasser und leise Stimmen. Kaum lichtete sich das Gebüsch, blieb ich stehen. Die drei Jungs saßen auf den Felsen und guckten hinaus auf den See, über dem die Sonne aufging. Der Horizont war in ein tiefes Orange verfärbt, dass sich mit einem hellen Gelb vermischte und in ein mattes Graublau überging.
Erleichtert beobachtete ich die Jungs. Mückenschwärme tanzten über dem Wasser. Im Dickicht surrte es, aber ich machte mir keine Gedanken darum.
»Versteht ihr, was ich meine?«, fragte Miles in dem Moment, als ich ihnen den Rücken zukehren und gehen wollte.
Automatisch hielt ich inne.
»Wir haben schon so viel durchgemacht, da überleben wir das auch noch.«, hörte ich Noah sagen.
Jake murmelte etwas unverständliches. Noch bevor er zu Ende geredet hatte, verpasste Noah ihm einen Seitenstoß. »Pass bloß auf.«, sagte er, doch er klang weniger bedrohlich.
»Sie hat einen guten rechten Haken.« Miles warf den Kopf in den Nacken, als er lachte. Dafür kassierte er einen vernichtenden Blick von Jake.
Noah wurde nachdenklich. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Felsen ab und schaute gen Himmel. »Ich habe das Gefühl, jemand zu werden, der ich nicht sein möchte.«
Miles und Jake schwiegen.
»Irgendwie schwach ... zerbrechlich, eifersüchtig, wütend ...« Noah winkte ab, »Vergesst es.«
»Warte«, sagte Miles.
Jake und Noah sahen ihn an.
»Du meinst, sie macht aus dir jemand schwaches?«, hakte Miles nach.
Noah zuckte die Achseln, als würde er diesem Gespräch keinen großen Wert beimessen.
»Alles wird schwieriger auszuhalten.«, schob er mit einem Mal nach. »Ich bin angreifbar. Ich weiß nicht, wie ich mit einer Waffe in der Hand durch den Wald rennen und gleichzeitig mit ihr zusammen sein kann.«
Für eine Weile blieb es still.
»Deine Familie ist gestorben, und du willst ihr nicht dasselbe antun. Das ist doch gut.«, meinte Miles schließlich.
Seufzend schüttelte Noah den Kopf. »Ja ... Nein. Ach, ich weiß auch nicht.«
Während die drei stumm dasaßen, begann es in meinem Schädel zu rotieren. Ein guter rechter Haken, hallte Jakes Stimme in meinen Ohren nach. Ich blickte hinab auf meine Hand, die heute weniger geschwollen, dafür jedoch grün und blau angelaufen war.
Redeten sie über mich?
»Das Problem ist, dass ich nicht vorhatte, lebend aus dem Haus meines Onkels rauszugehen. Ich hatte mit allem abgeschlossen und habe deswegen meinen Kopf hingehalten.«, erklärte Noah.
Miles und Jake tauschten einen beunruhigten Blick. Mich überkam ein seltsames Gefühl und plötzlich auch eine tiefliegende Angst davor, dass Noah tatsächlich sterben könnte.
»Und jetzt willst du leben?«, fragte Miles zögerlich, als hätte er meine Gedanken lesen können.
»Ich denke schon, ja.«, antwortete Noah.
»Was für ein Mist«, meinte Jake sarkastisch.
Er stieß Noah an. »Dabei war ich so scharf darauf, dein Grab zu pflegen.«
»Kannst du immer noch machen.«, murmelte Noah und vergrub das Gesicht in den Händen.
Stillschweigend stützte auch Jake seine Hände auf dem Felsen ab, um seine Beine etwas weiter ausstrecken zu können. Irgendwann sagte er leise: »Nee, lass mal. Ich finde dich nämlich lebend viel besser als tot.«
Miles fuhr sich durch das fast schwarze Haar und beugte sich vor, damit er seine Ellbogen auf den Knien aufstützen konnte. Dann sah er Noah fragend an. »War der ganze Plan ein Versuch, dich dafür zu bestrafen, dass du deine Familie nicht beschützen konntest?«
Ich spürte, wie Miles Worte auf mir lasteten. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und ich machte zwei Schritte rückwärts, weil ich an dieser Stelle schon viel zu lange stand. Es war nicht meine Intention gewesen, ein privates Gespräch zu belauschen.
»Nein, keine Strafe«, hörte ich Noah gedämpft sagen. »Ich hatte niemanden mehr. Vielleicht habe ich dadurch den Boden unter den Füßen verloren. Es war unsinnig zu denken, dass es eine gute Idee wäre, mich zu rächen, ganz egal, ob ich das überleben würde. Ich habe mich zu sehr auf meinen Hass konzentriert und vergessen, klar zu denken. Es war bescheuert von mir. Jetzt wissen sie, wer ich bin. Ich kann nicht zurück, aber wie soll ich noch vorwärts gehen, ohne Julie in den ganzen Scheiß hereinzuziehen?«
Jake holte tief Luft. »Sie ist mittendrin, Mann.«
»Fuck, ich weiß.«, stieß Noah hervor.
Verzweifelt raufte er sich die Haare. »Fuck, fuck, fuck!«
»Wir kriegen das hin.«, verkündete Miles und warf Jake einen Hilfe suchenden Blick zu. »Stimmt's?«
Ich fokussierte den Sonnenaufgang. Es war merklich heller geworden in den letzten dreißig Minuten. Fest entschlossen wandte ich mich ab und lief zurück zu den Autos, die am Rande des Gebüschs parkten. In der Spiegelung des schwarzen Lacks sah ich Blätter und Baumstämme, und auf der Motorhaube das Abbild eines Mädchens. Eine von zig Millionen, die auf der Erde existierten, dachte ich und guckte mein Spiegelbild an. So direkt hatte ich mir selbst noch nie in die Augen geschaut. Ich hatte immer Angst davor gehabt, was das unerreichbare Schönheitsideal in meinem Kopf wohl über mich zu sagen hatte. Heute war das anders. Merkwürdigerweise sah ich nicht, wie spröde meine Haare schon wieder waren oder den Schmutz an meinen Armen, wenn mir die Decke von den Schultern rutschte. Ich sah ein Mädchen, dass verletzlich war, ohne sich verstecken zu müssen. Ein Mädchen, dass nicht wusste, was sie fühlen sollte, durcheinander war, aber gleichzeitig so sehr bei sich wie noch nie zuvor.
Und zum allerersten Mal in meinem Leben traute ich mich, meinem eigenen Spiegelbild ein unsicheres, jedoch sanftes Lächeln zu schenken.
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Nicht ohne dich
AventuraNoah ist so stur, so unberechenbar, so anders, als all diejenigen, die Julie bisher kannte. Und sie weiß, dass sie niemals eine Chance haben werden. Nicht nach dem Chaos, das Noah angerichtet hat. Nicht nach den Racheplänen, die er schmiedet. Doch w...