Kapitel 12

4.9K 220 9
                                    

Es wurden immer weniger Felder rechts und links von uns, bis das erste Haus in mein Sichtfeld trat. Das Holz der Veranda war dunkel. Die Fensterläden waren geschlossen und es stand kein Auto in der Einfahrt. Für einen Moment blickte ich zu Noah, um festzustellen, ob dies vielleicht das Haus seines Onkels war, aber er fuhr weiter, ohne das Haus überhaupt zu bemerken. Ehrlich gesagt, wäre es auch sehr verdächtig gewesen, hätte Noah in dieser Umgebung bleiben wollen.

»Wie lange dauert die Fahrt ungefähr?«, fragte ich, und zog mir unter der Fleecedecke die Jeans an.

Erinnerungen an Autofahrten mit meinen Eltern kamen hoch. Conor und ich hatten meistens schon kurz nach dem Losfahren gefragt, wie lange es noch dauern würde.

Noah betätigte den Blinker, als wir an einer Kreuzung hielten. »Ein paar Stunden. Du kannst schlafen.«

Ich lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Eine Frau mit Hund stand am Gehweg und wartete, bis sie die Straße überqueren konnte. In der Hand hielt sie ihr Smartphone. Anscheinend hatte ihr soeben jemand wichtiges geschrieben, denn sie begann aus dem Nichts zu lächeln. Irgendwann wollte ich auch jemanden in meinem Leben wissen, wegen dessen SMS ich lächeln musste.

Es ruckelte noch ein letztes Mal, dann wurden die Straßen ebenmäßiger. Ich driftete langsam in eine Traumwelt ab. Nach einer Weile blinzelte ich verschlafen, aber Noah saß noch immer auf dem Fahrersitz und starrte konzentriert durch die Windschutzscheibe hinaus. Etwa eine halbe Stunde später wachte ich noch einmal auf, als uns auf dem Highway ein Krankenwagen überholte. Die Sirenen waren schrill und die Lichter blendeten mich.

»Wie lange sind wir schon unterwegs?«, wollte ich wissen, nachdem Noah einen Tankstopp eingelegt hatte.

»Drei Stunden.«, sagte Noah monoton. Er überholte einen LKW.

»Bist du nicht müde?«

»Geht«, murmelte Noah und blickte in den Rückspiegel.

Die nächste Ausfahrt fuhren wir vom Highway ab. Ich war völlig orientierungslos. Nur noch vereinzelte Städtenamen auf den Straßenschildern kamen mir bekannt vor, dabei war ich eigentlich immer gut in Geographie gewesen.

Eine weitere Stunde später befanden wir uns auf einer Landstraße. Es war wunderschön hier. Unbefestigte Wege führten von der Straße ab zu Häusern, die zwischen Bäumen und wilden Gräsern standen. Uns kam ein gelber Schulbus entgegen. Noah wich aus, und bog in einen Weg ein, der zu einem verlassenen Haus führte. Im Untergeschoss waren die Fensterläden geschlossen. Im Obergeschoss befanden sich Sprossenfenster. Gauben ließen das Haus eindrucksvoll und trotzdem gemütlich erscheinen. Das Dach war mit grauen Schindeln gedeckt und die Fassade mit weiß gestrichenem Holz verkleidet.

Noah parkte neben einem großen Baum am Wegesrand. Er schnallte sich ab und stieg aus dem Auto aus. Zielstrebig lief er auf die Veranda zu, die sich über die gesamte Hausseite erstreckte. Aus seiner Hosentasche fischte Noah einen Schlüssel heraus.

Langsam öffnete ich die Autotür und steuerte auf Noah zu. Ich ließ meinen Blick von der Veranda hinauf bis zum Dach schweifen. Es war absolut beeindruckend, wie unfassbar schön dieses Haus war. Noahs Onkel musste viel Arbeit und Geld investiert haben.

Bei dem Gedanken stockte ich. »Warte«

Noah hielt inne.

»Ist dein Onkel da?« Mir wurde mulmig. Bestimmt wusste Noahs Onkel nicht, was sein Neffe angestellt hatte. In diesen Konflikt würde ich ungern hineingeraten.

Verunsichert trat ich einen Schritt zurück. »Ist er da?«

»Nein«, antwortete Noah endlich.

Ich atmete aus. »Gut.«

Er schloss die Haustür auf. Ein Wohnzimmer mit Kamin und hohe Decken, die mit Stuck verziert waren, kamen zum Vorschein. Plastikfolie war über die paar Möbel gedeckt, die noch im Raum standen.

»Ist das etwa ein Geisterhaus?« Ich schaute mich um.

»So ähnlich«, erklärte Noah und drückte die Haustür hinter uns zu. »Mein Onkel ist tot.«

»Oh« Ich blieb wie angewurzelt stehen. Ein wenig zerknirscht blickte ich Noah nach, während er die Zimmer inspizierte. Sein Verhalten erweckte den Eindruck, als wäre es total egal, dass sein Onkel nicht mehr lebte.

»Komm«, rief er.

Noahs Stimme folgend entdeckte ich die Küche. Auch hier war alles schlicht, jedoch gemütlich eingerichtet. Am Kühlschrank klebten alte Fotos. Ich konnte nicht anders als einen Blick zu riskieren. Auf einem Foto grinste ein kleiner Junge zufrieden in die Kamera, auf einem anderen hielten sich drei Erwachsene in den Armen und lachten. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte ich die Ähnlichkeiten des kleinen Jungen mit Noah. Die Haare. Die Gesichtszüge. Ich nahm das Foto ab und steckte es ein.

Noah entdeckte ich in einem kahlen Zimmer mit großem Schreibtisch. Er hatte eine vertrocknete Pflanze, deren braune Zweige sich schleichend auflösten, zur Seite geschoben und hing mit dem Oberkörper in einem Schrank.

»Brauchst du Hilfe?«

»Ja, nimm mir die mal ab.«, hörte ich Noah sagen. Dann tauchte er auf und drückte mir eine Pistole und einen Revolver in die Hand. Vor Schreck ließ ich sie fast wieder fallen.

»Die sind nicht geladen.« Noah beugte sich wieder vor und holte noch etwas aus dem Schrank.

Er drückte mir weitere Dinge in die Hände. »Das ist das Magazin. Die kleinen Dinger da, sind Patronen.«, murmelte er beiläufig.

Ich guckte unglücklich hinab auf die Pistole, den Revolver und die Magazine.

»Du siehst aus, als hättest du eine schimmlige Tomate in der Hand, und nicht zwei teure Waffen.«, merkte Noah an.

»Sorry«

»Ist schon gut.« Er verschloss den Schrank und verstellte das Zahlenschloss.

Als sich unsere Blicke trafen, spürte ich ein Flattern in meinem Bauch. Eilig richtete ich die Augen auf meine Hände. »Nimm mir bitte die Waffen ab.«

»Gleich« Noah ging in die Küche.

Ich folgte ihm, und er nahm mir die Pistole und den Revolver ab, um sie mitsamt der Magazine in einem Küchenschrank zu verstauen. Im gleichen Zug reichte er mir einen Kanister mit durchsichtiger Flüssigkeit und einen Campingkocher. Das war also, was er hier deponiert hatte ...

Auf dem Etikett des Kanisters konnte ich lesen, dass es sich um stilles Wasser handelte. Noah gab mir ein Handtuch, in das eine Packung Männerduschgel eingerollt war. »Damit kannst du dich waschen. Wir haben noch mehrere Kanister.«

Das war die beste Neuigkeit seit langem. Dankbar nahm ich den Wasserkanister und das Handtuch mit Duschgel an.

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt