Kapitel 22

3.4K 176 28
                                    

Falls ich gedacht hatte, dass die Straße vorhin viele Schlaglöcher hätte, musste ich mich nun eindeutig korrigieren. Gegen den Weg, den wir jetzt entlangfuhren, war das vorhin die reinste Massage gewesen. Hier hingegen folgte ein Loch im Boden dem Nächsten. Ich wollte Miles gerade darauf hinweisen, dass ich, wenn er das Tempo nicht bald ein wenig drosselte, mich in den Wagen übergeben würde, als er anhielt und sich für einige Sekunden umschaute. Mit der Hand vor dem Mund hielt ich inne. Dann bog Miles einmal scharf ab und wir befanden uns auf der Innenseite eines großen Feldes, dass von Büschen und wilden Sträuchern umgeben war. Inwiefern wir an diesem Ort in Sicherheit waren, konnte ich nicht einschätzen. Weiter zu fahren, hätte uns bestimmt auch nicht viel gebracht, denn sobald die Polizisten wieder zu sich kamen, würde man bestimmt die umliegenden Straßen sperren, um uns wie Tiere im Käfig zu halten.

»Was nun?«, fragte ich.

Miles schnallte sich ab und lehnte sich im Sitz zurück. »Nun warten wir.«

Mir wurde schummrig, sobald ich daran dachte, dass ich Noah wiedersehen würde. Ich sackte in mir zusammen. Sekundenlang starrte ich durch die Windschutzscheibe des Autos hindurch ins Grüne. Es musste doch noch eine weitere Antwort darauf geben, weshalb es Noah leid tun könnte, mich in die Sache hereingezogen zu haben. Nicht ausschließlich der Grund, dass er mich nicht um sich haben wollte. Ich kaute auf meiner Unterlippe und fühlte mich mit einem Mal ziemlich verzweifelt. Vielleicht wollte Noah nicht, dass ich die Menschen verlor, die mir wichtig waren. Meine Familie. Oder Freunde. Er konnte ja nicht wissen, dass ich kaum Freunde hatte.

»Alles okay?«

Ich hob den Kopf.

»Klar«, sagte ich irgendwann und stellte fest, dass ich einen Kloß im Hals hatte. Meine Hände waren feucht und ich musste dringend an etwas anderes denken als an Noah.

Miles drehte sich ein wenig nach hinten. »Denkst du an deine Familie?«

Zugegebenermaßen überraschte es mich, dass Miles mich nach solch einem heiklen Thema fragte. Er tat es jedoch auf eine ganz bestimmte, einfühlsame Art, sodass es wie das normalste Gespräch der Welt klang. Wir hätten auch über das Wetter reden können, es hätte keinen Unterschied gemacht, und ich fühlte mich nicht unwohl dabei.

»Vorhin musste ich an meinen Bruder denken.«, erzählte ich. »Er ist jünger als ich.«

Miles nickte verständnisvoll.

»Das war bei meiner ... Verhaftung« Ich sprach das Wort aus, als könnte ich gar nicht glauben, dass es wirklich existierte. Stirnrunzelnd guckte ich hinab auf meine Hände. »Die Cops haben mich auf den Boden gedrückt, da sah ich den Löwenzahn. Er war überall auf der Wiese. Ich habe mich an Conor erinnert, und wie er Pusteblumen geliebt hat als er klein war.«

»Ich habe sie auch geliebt.«, warf Miles ein.

Er entlockte mir ein schwaches Lächeln.

»Vermisst du ihn sehr?«

Vor mein geistiges Auge projizierte sich ein Bild meines Bruders. Sein freches Lachen, er in seinem Footballtrikot, und wie gespielt unschuldig sich Conor gab, nachdem er mir mal wieder den Ärger in die Schuhe geschoben hatte.

»Ja.«, sagte ich. »Aber es geht ihm gut zu Hause, deshalb ist es okay für mich.«

»Du bist eine gute Schwester.« Miles wandte den Blick ab, als würde er etwas da draußen zwischen den Sträuchern suchen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ihn ein düsterer Augenblick der Vergangenheit eingeholt hatte. Am liebsten hätte ich ein paar tröstliche Worte gesagt, doch ich bekam rein gar nichts über die Lippen. Es war, als steckten sie mir im Hals fest.

Miles räusperte sich. »Willst du wissen, woran ich das merke?«

»Dass ich eine gute Schwester bin?«, hakte ich nach.

Er nickte.

»Schieß los.«

Unfassbar, dass ich mit einem Fremden über so etwas persönliches sprach.

»Dir geht es darum, dass es ihm gut geht.«, erklärte Miles. »Ganz egal, ob du gerade verhaftet oder beinahe erschossen wurdest. Du denkst zuerst an ihn.«

Kopfschüttelnd sah ich ihn an. »Bei dir klingt das, als wäre ich selbstlos. Meinen Bruder bei mir zu haben, wäre lebensgefährlich. Jeder würde so handeln.«

Miles stützte den Ellbogen auf die Mittelkonsole und guckte mich aufmerksam an. »Du hast einen sehr guten Eindruck von Menschen.«, stellte er fest. »Woran liegt das?«

Ich bemerkte ein herausforderndes Funkeln in seinen braunen Augen. Für einen Moment zögerte ich, weil ich nicht wusste, wie ich auf Miles Frage reagieren sollte. Er blieb geduldig.

»Woran liegt es, dass du keinen guten Eindruck von Menschen hast?«, fragte ich neugierig.

Miles brach unseren intensiven Blickkontakt nicht. »Das hat mit vielem zutun.«

»Womit denn zum Beispiel?«

»Vielleicht damit, dass wir auf der Flucht vor wirklich grausamen Menschen sind?«

Augenverdrehend lehnte ich mich zurück.

»Okay.« Miles atmete tief durch, »Kennst du es nicht, dass Leute dich sehen und sie meinen, dich zu kennen, ohne überhaupt zwei Sätze mit dir gewechselt zu haben?«

»Lehrer«, erwiderte ich spontan.

Miles stimmte mir zu. »Sie machen sich ein Bild von dir, dass vielleicht völlig verdreht und falsch ist. Es ist eine Momentaufnahme, aber sie messen dem Ganzen solch einen Wert bei, dass sich deine Noten danach richten und ihre Einschätzung, wie weit du es jemals bringen wirst, ebenso.«

»Das Erste, was wir sehen, ist immer das Äußere.«

»Man muss aber nicht gleich ein Urteil fällen, oder?«, merkte Miles an.

»Stimmt.«

Er blickte durchs Fenster hinaus. »Es liegt an uns, hinter eine Fassade zu schauen, oder uns lediglich mit den Oberflächlichkeiten zu befassen. Menschen sind nicht eine Schlägerei. Sie sind nicht arrogant aufgrund eines merkwürdigen, und depressiv aufgrund eines traurigen Blicks. Menschen sind nicht so zweidimensional, als dass wir alles erfassen könnten. Sie sind vielschichtiger, und manchmal, ... da überraschen sie uns einfach.«

Ich musste unwillkürlich lächeln. Miles richtete seine Augen wieder auf mich. Mein Lächeln wurde breiter, als sich unsere Blicke trafen. Stillschweigend sahen wir einander an.

Noah, kam es mir in den Sinn. Er hatte mich überrascht. Miles überraschte mich auch, denn er wirkte so intelligent, als würde er jedes noch so kleine, zwischenmenschliche Detail durchschauen. Vielleicht durchschaute Miles auch mich.

Ich musste mich dazu zwingen, nicht dicht zu machen. Irgendwie war es mir unangenehm, dass Miles sehen könnte, dass ich mir noch nie viele Gedanken über diese Themen gemacht hatte. Ich sorgte mich, dass er mich nicht leiden könnte, wüsste er, wie oberflächlich ich war. Zum ersten Mal in meinem Leben zweifelte ich an meinem großen Traum von Harvard und einer strikt geordneten Zukunft in einem Haus mit Veranda, zwei Kindern und einem Ehemann, der abends von der Arbeit nach Hause kam und mich zur Begrüßung küsste, bevor wir gemeinsam wie jeden Tag zu Abend aßen.

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt