Eine graue Wolkenwand schob sich langsam vor die Sonne und verdunkelten unseren Platz auf dem Felsen. Vereinzelte Tropfen fielen auf die spiegelnde Oberfläche des Sees, wo sich kleine Kreise bildeten. Das beruhigende Plätschern des Regens nahm zu, und nach einiger Zeit drangen auch schon die ersten Regentropfen durch das Blätterdach zu uns hindurch und benetzten unsere Haut.
»Gehen wir?«, fragte ich.
Noah nickte, doch als ich aufstehen wollte, hielt er mich zurück. Die Furchen auf seiner Stirn vertieften sich.
»Komm« Besorgt schaute ich gen Himmel, »Sonst werden wir noch nass.«
Widerwillig stand auch Noah auf. Hand in Hand balancierten wir über die Steine, deren vereinzelte Kanten sich wie stumpfe Messer in unsere Schuhsohlen bohrten. Als wir den festen Boden des überwucherten Feldweges erreichten, lichteten sich die Baumkronen und der Regen prasselte unaufhörlich auf uns nieder.
Dürre Zweige und bemooste Äste knackten unter unseren Schritten. Regen perlte aus meinen Haaren und lief über meine Stirn, die Wangen und tropfte mein Kinn hinab auf die nach Wasser lechzende Erde, die vor Trockenheit ganz staubig war.
Ein tiefes Grollen ließ mich erschaudern. Ich umklammerte Noahs Hand und betete, dass kein allzu schlimmes Unwetter aufziehen würde oder sich der Blitz ausgerechnet einen der hohen Bäume um uns herum aussuchen würde. Ein erneutes Grollen ertönte, diesmal jedoch deutlich lauter, sodass Noah und ich zu Rennen begannen.
Noah duckte sich und hielt sich die freie Hand an die Stirn, um zu verhindern, dass der nun senkrecht kommende Regen ihm die Sicht verschleierte. Blätter und Sträucher peitschten gegen seinen Körper. Meine Atmung ging schnell und heftig, während wir auf die Autos zusteuerten. Miles lehnte an der Beifahrertür unseres Toyota Prius. Seine Haare waren noch nicht allzu feucht, was bedeutete, dass er gerade erst ausgestiegen sein musste. Jake saß noch immer im Wagen.
Miles stapfte auf uns zu. »Wir müssen reden.«
In dem Wagen von Jake und Noah war es kühl geblieben. Das Gebüsch rundherum hatte die Sommerhitze abgefangen, die uns die letzten Tage heimgesucht hatte.
Jake reichte ein gerolltes Stück Papier nach hinten, wo Miles, Noah und ich auf der Rückbank saßen. Noah löste das Gummiband. Sofort befreite sich das Papier, und er strich die Enden so gut es ging auf seinem Schoß glatt.
Interessiert beugte ich mich nach rechts, um einen Blick auf das Papier erhaschen zu können. Ich war kein Profi, aber die feinen Linien der Zeichnung erinnerten mich an einen Bauplan.
»Vielleicht sollten wir Julie zuallererst auf den neusten Stand bringen«, schlug Miles vor und sah an Noah vorbei zu mir nach links.
Jake, der zu uns dreien nach hinten sah, presste die Lippen fest zusammen.
»Das ist ein Architektenplan für das große Gebäude, wo sich die Supermarktkette eingemietet hat.«, erklärte Noah. Sein Finger fuhr beinahe andächtig über die sauberen, schwarzen Linien der Zeichnung. »Dies ist ein Fenster, und das hier bedeutet, dass dort eine Tür verbaut worden ist. Du kannst auch sehen, in welche Richtung sie geöffnet wird.«
Miles nickte zustimmend.
»Jake, gib uns mal die zweite Zeichnung und die Statik.«, sagte er.
Jake reichte vom Fahrersitz einen weiteren gerollten Plan und einen großen Stapel zu DINA4-Format gefalteter Papiere herüber. Noah nahm die Dokumente wieder entgegen und breitete den Plan aus. »Der Plan für das Gebäude ist wichtig, um mögliche Fluchtwege zu kennen ... Fenster, Türen, durch die wir fliehen können.«
»Aber der andere Plan beziehungsweise die Statik sind das wirklich Interessante.«, warf Miles ein.
»Genau. Siehst du die Zeichen?«, fragte Noah mich und tippte mit seinem Zeigefinger auf kleine Symbole, die sich über der Zeichnung verteilten.
Ich bejahte.
Miles faltete derweil die Statik auseinander und legte sie Noah hin.
»Gut« Jetzt ließ Noah seinen Finger hinunter in die rechte Ecke der Statik wandern, wo etwas in Computerschrift geschrieben stand.
»Ingenieur Michael A. Johnson«, las ich und guckte abrupt zu Noah hinauf. »Diese Statik hat dein Dad gemacht?«
»Ja. Lies weiter.«, erwiderte Noah leise.
»Bauherr: ... Wieso steht da nichts?« Ich suchte die gesamte Seite ab, doch konnte keinen Namen von einem Auftraggeber finden.
Miles ließ sich von Jake einen flachen, silbernen Laptop geben. Draußen blitzte es grell, sodass mir ein wenig mulmig wurde. Ich fuhr mir durchs nasse Haar und wartete ab, bis Miles seinen Computer gestartet und in meine Richtung geschoben hatte. Das Foto einer handschriftlichen Notiz war auf dem Display abgebildet.
»B. Edwards zurückrufen. Wer ist B. Edwards?«
Jake atmete tief ein, weil ihm dieses Gespräch schon wieder viel zu lange zu dauern schien. Miles und Noah tauschten einen schnellen Blick, bevor Miles den Laptop wieder zuklappte.
»Bruce Edwards war der Auftraggeber meines Dads.«, sagte Noah.
Ich fixierte den Bauplan erneut.
»Bruce Edwards ist der Vorstandsvorsitzende einer Gruppe, die für ihre Klienten interne Firmenprobleme löst.«, erläuterte Miles.
»Das heißt?«, hakte ich nach.
Noah räusperte sich. »Auftragsmorde, Erpressung ... und jede Menge anderer Straftaten.«
Schwer schluckend betrachtete ich das Papier in seinen Händen.
»Alles, was sie tun, ist verdeckt. Der Name Bruce Edwards ist bislang nur einmal in Zusammenhang mit dem Gebäude aufgetaucht und das ist hier. Wir haben keinerlei Kontaktdaten - außer dem Haus meines Onkels als gemeinsamen Treffpunkt.« Noah kratzte sich am Hinterkopf.
Ich fing seinen Blick ein, und deutete auf den Bauplan. »Du hast quasi versucht, einen unsichtbaren zu jagen?«
»Eigentlich habe ich versucht, den Unsichtbaren sichtbar zu machen, indem ich eine Schießerei in seinem Gebäude anzettele und ihn dazu bringe, seine Leute auf mich anzusetzen, damit ich schlussendlich im Haus meines Onkels auf sie warten kann.«, erklärte Noah und grinste bei dem Gedanken daran, wie sein Plan durch unsere gemeinsame Flucht gescheitert war.
»Wow.« Beeindruckt lehnte ich mich zurück, »Was bekommt man denn so für einen Auftragsmord?«
Miles entfloh ein raues Lachen.
»Gut, dass du das Thema ansprichst.«, meinte Noah. »Wir haben herausgefunden, dass Bruce Edwards nicht nur CEO ist, sondern unter seinem Namen auch diverse Offshore-Konten im Ausland laufen.«
Ich schaute ungläubig zwischen den Jungs hin und her. Mein Staunen löste ein einvernehmliches Schmunzeln aus, während der Regen draußen wieder heftiger wurde und laut auf das Autodach trommelte.
DU LIEST GERADE
Nicht ohne dich
AdventureNoah ist so stur, so unberechenbar, so anders, als all diejenigen, die Julie bisher kannte. Und sie weiß, dass sie niemals eine Chance haben werden. Nicht nach dem Chaos, das Noah angerichtet hat. Nicht nach den Racheplänen, die er schmiedet. Doch w...