In der Nacht träumte ich von der Fahrt im Range Rover nach Chicago. Die Scheinwerfer des schwarz lackierten Wagens fluteten die regennassen Straßen mit Licht. Vor uns am Himmel zuckten Blitze und erleuchteten den Interstate 55, während der Regen wie verrückt aufs Autodach trommelte. Die Scheibenwischer bewegten sich im Sekundentakt auf der Windschutzscheibe hin und her. Der Donner grollte mit einer solchen Intensität, dass ich das Gefühl hatte, die Erde würde beben. Krachend erschütterte er Chicago und aus den dunklen Wolken, die tief über der Stadt hingen, zuckten abermals grelle Blitze. Ich guckte zu Noah. Er rührte sich nicht. Irgendwie fühlte es sich merkwürdig an, so neben ihm zu sitzen. Unser Kuss schien jedenfalls vergessen. Traurig senkte ich den Blick ...
... Und öffnete die Augen. Ich war wach.
Blinzelnd schaute ich mich um. Dann erschrak ich vor den fremden Möbeln und zog meine Beine ganz dicht an meinen Körper, bis ich in der Ecke auf der Matratze meines Bettes kauerte. Ich trug schlichte, orange Kleidung. Einheitlich. Meine privaten Sachen waren so zerschlissen, kaputt und muffig gewesen, dass man sie entsorgt hatte. Trotz alledem hätte ich in diesem Moment alles gegeben, um meine alte Kleidung wieder zu bekommen. Ich wünschte, es gäbe nur irgendetwas vertrautes in diesem Raum.
Die wenigen Möbelstücke warfen beunruhigende Schatten an die kahlen Wände. Das Waschbecken glänzte im Mondschein, der durch das von stabilen Gittern abgesicherte und verschlossene Fenster fiel. Direkt neben dem Waschbecken befand sich auch die Toilette. Auf der gegenüberliegenden Seite neben dem Fenster stand ein brauner Schrank. Ich war froh darüber, dass meine Zelle so winzig war, denn auf diese Weise sah ich immer alles auf einen Blick; Das Fenster, das Waschbecken, die Tür. Nichts blieb mir verborgen. Das rettete mich in Gedanken, wenn ich Geräusche aus den benachbarten Zellen hörte und schreckliche Angst bekam, gleich könnten irgendwelche gefangenen Mörder oder Vergewaltiger die Schlösser knacken und die Wache überlisten, um mir die abscheulichen Dinge anzutun. Logisch war es nicht, aber Ängste hatten schließlich auch nicht das Geringste mit Logik zutun.
Ich wünschte bloß, Noah wäre bei mir. Unfassbar, dass ich soeben noch dachte, wie sehr ich mich vor Mördern fürchtete und in der nächsten Minute sehnte ich mich nach der Anwesenheit eines ebensolchen. Eigentlich war ich selbst auch ein Mörder. Es war schon seltsam, dass ich weder Noah noch mich einzig und alleine auf unsere Taten reduzierte. Ich vergaß es. Im Vordergrund stand, was ich ihm gegenüber fühlte, und das könnte, egal, was Noah täte, niemals Furcht sein. Ich verstand jeden seiner Schritte, jede Tat, einfach alles. Es war zu erklären, wieso er handelte und dies geschah nicht aus einem Impuls heraus, oder weil es Noah Spaß machte. Er war sich sämtlicher Taten vollkommen bewusst und das hob ihn in meinen Augen von anderen Schwerverbrechern ab. Deshalb hatte es überhaupt die Option gegeben, ihn jemals toll zu finden. Und schließlich waren da noch die ganzen Dinge, die ich über Noah erfahren hatte. Über seine Familie, seine Kindheit, über Miles und Jake und deren Freundschaft. Noah war loyal zu uns. Er schützte uns. Darauf war Verlass. Ich mochte alles an ihm. Jedes komplizierte Detail, seine Intelligenz, mit der er mich immer wieder beeindruckte, sein Lachen und die Art, wie er mich anschaute. Es fühlte sich tatsächlich so an, als könnte eine Beziehung mit ihm ewig halten. Ich wollte mehr über ihn wissen; All das, was durch unsere Flucht untergegangen war. Seine Lieblingsfarbe, sein Lieblingstier, sein Lieblingsort.
Ich wischte mir eine verlorene Träne von der Wange. Was heute geschehen war, war bitterer Ernst. Wir würden vor Gericht kommen und verurteilt werden, und doch kam es mir so vor, als lebte ich das Leben eines anderen. Es war, als sähe ich von außerhalb auf das Geschehen hinab. Meine Perspektive hatte sich geändert, und so entschlossen wie ich noch vor einigen Tagen gewesen war, Bruce Edwards auffliegen zu lassen, so einsam kam ich mir nun vor. Nichts war wirklich ausgeklügelt gewesen. Wir hatten uns strafbar gemacht. Eigentlich hätte ich meine Freunde davon abhalten müssen, diese schrecklichen Fehler zu begehen, anstatt selbst mitzumachen. Wir saßen in der Scheiße. Daran war nichts zu beschönigen.
Tiefe Schluchzer erschütterten meinen Körper. Ich wollte schreien und toben, gegen die Wände schlagen und den emotionalen Schmerz herauslassen, doch ich war wie gelähmt. Meine Nase schwoll an, die salzigen Tränen liefen in meinen geöffneten Mund und ich atmete schwer.
Es gab nur einen Ausweg, würde ich Noah in den nächsten Monaten wiedersehen wollen: Das Angebot von Agent Roberts anzunehmen. Doch Noah hatte sich noch nicht endgültig dazu geäußert. Vielleicht würde er es ausschlagen. Nur aus dem Grund, dass er seine Pläne lieber alleine umsetzte. Das durfte ich nicht zulassen. In erster Linie um seinetwillen, jedoch auch für Miles, Jake und mich. Wir hatten keine Wahl, als dem FBI zu helfen. Das war eine einmalige Chance. Wir wären Idioten, würden wir nicht unser Bestes geben.
In der zweiten Hälfte dieser Nacht weinte ich mich in den Schlaf.
Kurz vor sechs wurde meine Zelle aufgeschlossen, damit der Wärter sehen konnte, ob ich noch lebte. Der Schlüssel klimperte erneut und es wurde wieder abgeschlossen. Ich rieb mir die Augen und stieg schwankend aus dem Bett. Mein Kopf dröhnte und ich begann, mir die Zähne mit einer schmalen Plastikzahnbürste zu putzen, die man mir gestern gegeben hatte. Dann wusch ich mir das Gesicht, was ich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr getan hatte, und ging zum Fenster. Aus dieser Höhe hatte ich eine relativ gute Aussicht über Chicago.
Für geschlagene zehn Minuten guckte ich aus dem Fenster. Restaurants und kleinere Läden befanden sich in zahlreichen Seitenstraßen. Nur wenige Menschen waren bereits draußen unterwegs. In den nächsten Stunden würde sich das erheblich verändern, aber ich verspürte nicht die geringste Lust darauf, dem Treiben der Menschen zuzusehen. Es erinnerte mich nur wieder daran, was ich verloren hatte: Meine Freiheit. Die Möglichkeit, wann es mir passte, aus dem Haus zu gehen und mich zu treffen, mit wem ich wollte. Jetzt entschieden andere darüber, was mit mir geschah.
Gähnend ging ich zum Schrank, öffnete ihn und starrte die leeren Regalböden an. Plötzlich hörte ich wieder den Schlüssel im Schloss. Hastig drückte ich die Schranktüren wieder zu und blickte erwartungsvoll in Richtung der Zellentür. Ein uniformierter Wärter mit stolzer Haltung kam rein. Vorsichtig trat ich dichter.
»Ich habe den Befehl, dich in einen der Vernehmungsräume zu bringen.«, sagte der Wärter.
Erleichtert nickte ich und ließ mir von ihm Handschellen anlegen, ehe er mich am Arm von der Zelle wegführte. Wir durchquerten verschiedene Flure, die allesamt gleich aussahen. Alles war mehrfach abgesichert und verriegelt. Türen ließen sich ausschließlich durch das Vorzeigen des Dienstausweises öffnen und die Fahrstühle ebenso.
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Nicht ohne dich
AdventureNoah ist so stur, so unberechenbar, so anders, als all diejenigen, die Julie bisher kannte. Und sie weiß, dass sie niemals eine Chance haben werden. Nicht nach dem Chaos, das Noah angerichtet hat. Nicht nach den Racheplänen, die er schmiedet. Doch w...