Kapitel 32

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Ich fuhr zusammen, als jemand seine Hand auf meine Schulter legte. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, und ich drehte mich hektisch zu der Person um. Es war Miles. Er deutete in Richtung unseres Toyota Prius. »Können wir los?«

»Sind die anderen schon da?«, fragte ich und guckte mich um.

»Sie kommen gleich. Du fährst bei mir mit.«, antwortete Miles unbeteiligt, während er auf unseren Wagen zusteuerte.

Panik erfasste mich. »Wieso fährst du nicht mit Jake?«

»Es ist besser so.« Miles öffnete die Fahrertür. Als er sah, wie besorgt ich den Weg zum See hinunterblickte, schob er nach: »Wir müssen uns jetzt konzentrieren, Julie.«

Miles hatte recht. Ich riss mich von dem Anblick des Gestrüpps los, hinter dem sich der See verbarg und ging zum Auto. Mir war mulmig zumute, wenn ich daran dachte, dass wir uns gleich auf den Weg zu dem Ort machen würden, wo man uns am liebsten tot sehen wollte.

Bei offen stehenden Autotüren saßen Miles und ich auf unseren Plätzen und blickten wartend durch die Windschutzscheibe hinaus auf den anderen Wagen. Gedanklich ging ich unsere letzten Gespräche zu viert noch einmal durch. Ich kannte Noahs Geschichte, seine Vergangenheit, und wusste fast jedes Detail seines ersten Plans. Nur eines ließ mich nachdenklich werden. Ich verstand nicht, warum wir diesen vermeintlichen Überraschungsangriff machten, um bloß irgendein Sicherheitssystem auszukundschaften.

Irritiert wandte ich mich Miles zu. Er löste seinen Blick von der Scheibe und sah mich ebenfalls an.

»Was ist unser Ziel?«, fragte ich, und ging davon aus, dass Noah mich nicht belogen hatte. Das hätte alles geändert. »Was verbirgt sich hinter dem Sicherheitssystem, dass es so wichtig ist, es zu knacken?«

Und dann kam mir plötzlich ein Gedanke. Alles drehte sich um dieses eine Gebäude. Es gehörte Bruce Edwards, dem Mörder von Noahs Vater und seinem Onkel, die beide einen Auftrag von Edwards als Vorstandsvorsitzenden erteilt bekommen hatten. Es war ein Sicherheitssystem erbaut worden, eigens für dieses Gebäude und Noah, der Bruce Edwards oder zumindest einige seiner Lakaien hatte erschießen wollen, fand nun größeres Interesse an diesem Haus als an einem Racheakt. Möglicherweise spielten unsere gegenseitigen Gefühle eine Rolle, oder seine Erkenntnis, dass das Leben nicht wertlos war, aber dennoch traf Noah keine unnötigen Entscheidungen.

Ich zögerte einen Moment, doch Dann guckte ich Miles geradewegs und todernst in die Augen. »Der Firmensitz ist in diesem Gebäude, richtig?«

»Richtig.«, sagte Miles ohne nachzudenken.

»Was vermutet ihr hinter dem Sicherheitssystem? Bruce Edwards, wie er einfach auf euch wartet, damit ihr ihn umbringen könnt?« Mein Blick war hart, aber Miles schien mir ohnehin nicht ausweichen zu wollen.

Er lehnte sich entspannt im Sitz zurück.

»Nicht Edwards.«, sagte er nach einer halben Ewigkeit. Sein Tonfall war rau und vielversprechend. »Unterlagen.«

»Unterlagen?«, wiederholte ich fragend.

»Beweise für all die Straftaten, die Edwards und seine Leute begangen haben.«, erklärte Miles. »Wir lassen sie auffliegen. Edwards kommt ins Gefängnis und wir kriegen endlich unsere Freiheit zurück, ohne dass uns oder unseren Familien aufgelauert wird.«

In meinem Hals bildete sich ein Kloß, der mich daran hinderte, noch irgendetwas zu sagen.

»Endlich«, murmelte Miles und wies auf die Windschutzscheibe. Automatisch folgte ich seinem Finger und entdeckte Jake und Noah an dem anderen Wagen. Mir wurde schwindelig, je länger ich Noah betrachtete. Er nickte stumm, um mir zu demonstrieren, dass alles gut werden würde. Jake zeigte Miles den erhobenen Daumen und Miles zog seine Autotür zu.

»Bereit, Julie?«, fragte er rein rhetorisch.

Ich zog meine Tür zu.

Dann drehte Miles den Schlüssel im Schloss und ließ den Motor an. Zuerst fuhren wir vorweg. Die Erde unter den Reifen war matschig, sodass wir regelmäßig ins Schlingern gerieten. Kaum erreichten wir die befestigte Straße, überholte Jake uns. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich Noah sehen, dann war er wieder weg, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich zu gedulden und bis zu unserer Ankunft abzuwarten.

Es vergingen Stunden, bis irgendwann ein grünes Verkehrsschild zu unserer Rechten auftauchte, auf dem stand: Morris, 1 Meile. Die faden, braunen Felder auf beiden Seiten der Illinois State Route 47 gingen in Wiesen über, die saftig und grün waren. Aufregung flutete meine Venen mit jeder Sekunde, die wir unserem Ziel näher kamen. Zur Ablenkung starrte ich aus dem Fenster hinaus, beobachtete den Verkehr und den Wald, durch den wir seit der letzten Kreuzung fuhren. Je näher wir meinem zu Hause kamen, desto besser konnte ich mich orientieren. Gleich würde vor uns der Illinois River auftauchen. Wahrscheinlich befanden sich Jake und Noah bereits auf der Brücke. Drei Autos waren zwischen uns, und versperrten mir die Sicht auf den schwarzen Chevrolet Equinox. Ich hob meine Hand ein wenig an, und betrachtete das Zittern meiner Finger. Für einen Moment konnte Miles Blick auf mir haften spüren, dann konzentrierte er sich wieder auf die Straße, während ich stillschweigend meine Hand sinken ließ.

Unmittelbar nach dem grauen Ford vor uns fuhren auch Miles und ich über den Illinois River. Das Wasser hatte einen unschönen Grünstich und die Wolken, die dunkel und bedrohlich über Morris hingen, spiegelten sich auf der glänzenden Oberfläche des Flusses. Zu unserer Rechten befand sich ein großer Parkplatz, auf der anderen Seite standen hohe Bäume, die sich sanft im Wind wiegten. Wir entdeckten den Geländewagen von Jake und Noah und bogen gleich nach ihnen in eine Straße ab, die uns vom Highway wegführte.

»Was macht der nur?«, murmelte Miles, doch folgte dem Chevrolet mit Sicherheitsabstand.

Jake lotste uns direkt am Grundy County Sheriff-Büro vorbei. Ich wagte es nicht, den Kopf einzuziehen, obwohl ich stark den Drang danach hatte. Miles tippte derweil unruhig mit den Fingern am Lenkrad, bevor er hinter Jake abbremste und in eine Parklücke neben dem schwarzen Geländewagen fuhr.

Geladen sprang Miles aus dem Auto.

»Was soll das?«, fuhr er Jake an, der sich mit dem Rücken an seinen Wagen lehnte. »Wir haben es verdammt eilig und wollen alles bloß hinter uns bringen, und du machst einen Abstecher in die Stadt?!«

Ärgerliche schüttelte Miles den Kopf. »Manche Menschen können diese Risikos nicht eingehen, weil sie - ganz im Gegensatz zu dir - noch etwas zu verlieren haben.«

»Ergreifend«, sagte Jake sarkastisch. Dann wurde sein Tonfall ernst. »Wir brauchen etwas zu essen und müssen tanken. Beruhige dich und hol uns in der Zwischenzeit eine Pizza.«

»Wieso ich?« Miles trat zurück und legte eine Hand auf die geöffnete Fahrertür unseres Wagens.

»Du bist der Einzige, der mit Glück noch nicht gesucht wird.«, hörte ich mit einem Mal Noahs leise Stimme aus dem Inneren des Chevrolet Equinox. »Zumindest, wenn die Cops ihre Erinnerungen an den Überfall auf ihren Wagen verloren haben.«

Miles ergab sich. Mit ein paar Scheinen in der Hand lief er los. Unterdessen wartete ich alleine im Prius und schaute mich von meinem Sitz aus in Downtown Morris um.

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