Kapitel 1

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Einen Monat zuvor

Mein Kleiderschrank war mit Fotos beklebt. Eines zeigte Conor und mich in der Werkstatt unseres Nachbarn Frank. Wir grinsten breit. Conor stützte sich lässig an der Hebebühne ab. Ein anderes Foto stellte Dad dar. Er hielt einen Schraubenschlüssel in den Händen. Seine Finger waren ölverschmiert und er griff nach der Kamera. Auf einem weiteren Bild sah man die ganze Familie. Es war verwackelt. Vermutlich, weil Dad Conor spontan gekitzelt hatte.

Andächtig ließ ich den Blick über das glänzende Fotopapier schweifen. An dem Traurigsten blieb er hängen. Mom und ich umarmten uns darauf liebevoll. Im Hintergrund sah man die Krankenstation. Ich brauchte mich nicht um eine Erinnerung zu bemühen. Sie hatten sich deutlich in mein Gedächtnis eingeprägt. Verursachten die schlimmsten Nächte und düstersten Gedanken, sodass mir jeden Abend das Einschlafen schwerfiel. Es gab nichts, das die Realität verändern würde. So plagten mich die Albträume, bis der Wecker schrillte. Dann hatte ich zu funktionieren. Als Tochter und Schülerin sowie Anwärterin eines Studienplatzes in Harvard.

»Juliette!«, rief Mom von unten aus dem Flur. Sie war erst seit zwei Wochen wieder zu Hause. Für den nächsten Zyklus der Chemotherapie hatten die Ärzte sie entlassen.

Langsam hob ich den Zeigefinger. Die Kanten des Fotos streiften meine Haut und lösten erneut eine Gefühlswelle aus. Die Schwere lastete auf mir wie die Hand eines Riesen. Immer wieder presste sie mir den Brustkorb zusammen. Zwischendurch schmerzte es. An den meisten Tagen schaffte ich es, dies auszublenden. Was war das für ein Leben? Das Jahr hatte sich als ein Labyrinth entpuppt, doch ich kannte den Ausweg nicht. Und meine Welt versank in dichtem Nebel.

Jetzt hörte ich das Piepen der lebenswichtigen Geräte. Piep. Pause. Piep. Pause. Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Der Riese drückte kräftig zu.

Ein lauter Knall ließ mich zusammenfahren. Das hatte wie ein Football geklungen, der schon wieder quer durch unser Wohnzimmer gekickt worden war.

»Conor!«, rief ich mahnend. Mein Blick schweifte zur Uhr, die leise und unschuldig tickte. Augenblicklich erstarrte ich. Mist. Kein Wunder, dass Mom mich gerufen hatte. Im Gegensatz zu meinem jüngeren Bruder musste ich heute in die Schule gehen. Und ich war bereits viel zu spät dran.

Hastig griff ich nach einem Haargummi und streifte es mir über das Handgelenk. Dann sprintete ich die Treppe hinab und stürmte sofort ins Wohnzimmer. Meine Familie saß am Esstisch. Sie sortierten gemeinsam Fotos. Schnell merkte ich, dass es sich um die Kalender für Weihnachten handelte. Es war unsere Tradition, diese an entfernte Verwandte zu verschenken. Nach Moms Diagnose hatte ich nicht damit gerechnet, dass wir dies fortführten. Mom hingegen schien sich vorgenommen zu haben, nicht einmal bis Thanksgiving zu warten. Sie guckte mich an, lächelte und mir schnürte sich die Kehle zu.

»Habe ich etwas verpasst?« Mit bebendem Herzen beäugte ich die Fotos. Es waren wenige. Dennoch sah man uns oft als glückliche Familie. Was für eine Lüge. »Es ist doch noch gar nicht November.«

Dad rieb sich gespielt fröstelnd die Arme. »Der Schnee rieselt so laut, ich kann dich leider nicht hören.«

Dafür gab Mom ihm einen liebevollen Klaps auf den Oberarm. Dad grinste bis über beide Ohren. Sogar breiter als früher, weil wir das Kostbarste der Welt gewonnen hatten: Zeit. Höchstwahrscheinlich nur einige Monate, aber lieber gaben wir uns mit denen zufrieden als mit nichts. Und wenn wir dem Tod diesmal getrotzt hatten, könnten wir es vielleicht noch ein weiteres Mal hinkriegen. So oft, wie Mom es schaffte, zu kämpfen.

Schweigend nahm ich mein Physikbuch von der Couch. Danach warf ich einen Blick durch die Scheibe unserer doppelflügeligen Terrassentür hinaus in den strahlenden Sonnenschein. Das Wetter hätte gar nicht besser sein können. Darum liebte ich den Mai. Er war der Vorbote des Sommers. Erinnerte daran, wie selbst gemachtes Erdbeereis und kühle Wassermelone schmeckten sowie an den Duft von frisch gemähtem Gras und Moms roten Rosen, die im Garten wuchsen. Sobald ich nach der Schule in der Hängeschaukel saß, die mit vier Edelstahlketten an der Überdachung befestigt war, schien alles perfekt. Zumindest war es das einmal gewesen. In zwei Wochen würde ich achtzehn werden. Das bedeutete das Ende meiner Kindheit. Möglicherweise hieß es, das auch die Abende auf der Veranda vorbei waren.

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