Kapitel 43

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Je länger ich Noah ansah, desto weniger wollte mir eine Antwort auf die alles entscheidende Frage einfallen. Vielleicht war das »Wie« auch gar nicht so wichtig, denn es lag längst auf der Hand, dass ich überhaupt keine Möglichkeit ohne ihn in Betracht zog.

Plötzlich ließ Noah von den Grashalmen ab. »Ehrlich gesagt, muss ich mich auch bei dir entschuldigen.«

Irritiert runzelte ich die Stirn.

»Als wir uns kennen lernten, hattest du so große Zukunftspläne.«, sagte er nachdenklich.

»Die habe ich immer noch.«, log ich, damit er sich nicht schlecht fühlte und sprach nicht aus, dass sich meine Pläne vom Studium unter diesen Umständen wohl kaum innerhalb der nächsten Jahre bewerkstelligen ließen. Das wusste Noah vermutlich sowieso. Also entweder hielt er mich nun für einen hoffnungslosen Träumer oder eine Lügnerin.

»Wirklich?«, hakte er skeptisch nach.

Ich nickte tapfer.

»Ich dachte schon, ich hätte sie dir zerstört.«, sagte Noah und die Schuldgefühle, die auf ihm lasteten, kamen durch den Schmerz in seiner tiefen, rauen Stimme zum Vorschein.

Einige Minuten lang schwiegen wir. Dann entschied ich mich dazu, ehrlich mit ihm zu sein. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich all meinen Mut zusammennahm und mich ein wenig zu ihm drehte, bis sich unsere Schultern wieder berührten. Blitze jagten durch meinen Körper und mir wurde ein bisschen schwindelig.

»Diese Pläne für meine Zukunft habe ich mir überlegt, als ich zwingend irgendeinen Sinn brauchte. Damals hätte ich nicht sagen können, wer ich bin oder wie ich einmal sein möchte.«, erklärte ich. »Ich habe echt keine Ahnung, ob ich so sein will, wie ich jetzt bin, aber ich weiß ganz sicher, dass ich definitiv nicht mehr ohne dich sein möchte.«

Noah schaute auf und erstarrte. Ein Hauch von Verwirrung huschte über sein Gesicht. Unbehaglich fuhr ich mir durchs Haar, während er scheinbar erst zu begreifen versuchte, was ich ihm gerade mitgeteilt hatte. Unwillkürlich erinnerte ich mich an seine Worte gegenüber Miles und Jake.

»Ich habe das Gefühl, jemand zu werden, der ich nicht sein möchte.«

»Irgendwie schwach ... zerbrechlich, eifersüchtig, wütend.«

»Alles wird schwieriger auszuhalten. Ich bin angreifbar. Ich weiß nicht, wie ich mit einer Waffe in der Hand durch den Wald rennen und gleichzeitig mit ihr zusammen sein kann.«

Meine Unsicherheit folterte mich. Am liebsten hätte ich einen Rückzieher gemacht, aber nun war es raus und ich konnte schlecht behaupten, einen blöden Witz gemacht zu haben. Ab jetzt würde sich alles verkomplizieren. Was hatte ich nur getan?

»Sorry«, murmelte ich und stand auf, sodass sein Arm trostlos von meiner Schulter fiel. Im Gehen wischte ich mir über das Gesicht, um die letzten Spuren der Tränen zu beseitigen. Meine Hände waren eiskalt und ich bemühte mich, nicht die wiedergewonnene Kontrolle über meine Gefühle zu verlieren.

Im Augenwinkel erahnte ich, wie Noah aufstand. Ich hatte es nicht darauf angelegt, schnell wegzulaufen, denn bis zum Auto war es nicht mehr weit und bis dahin musste ich mir überlegt haben, wie es weitergehen sollte.

»Julie«, rief Noah.

Ich hielt inne. Mein Blick war gesenkt. Mühsam holte ich noch ein letztes Mal tief Luft, bevor ich mich ihm zuwandte und mich darauf gefasst machte, wie er mir sagen würde, dass wir eine nette Zeit hatten und ich mich in etwas verrannt hatte, was nicht existierte.

»Hast du das ernst gemeint?«, fragte er, als wir uns endlich gegenüberstanden.

Ich zögerte. Meine Zunge war wie verknotet und beim besten Willen hätte ich vermutlich nicht mal ein vernünftiges Nicken zustande gebracht. Das tiefe Grün seiner Augen rief unweigerlich Schmetterlinge in meinem Bauch hervor und ließ meine Knie weich werden. Es wurde wieder dunkler, denn die Sonnenstrahlen verschwanden. Die Luft fühlte sich geladen an, die Wolken waren grau mit einer Spur lila. Irgendwo am Horizont blitzte es.

Dann, ohne meine Antwort abzuwarten, nahm Noah meine Hand. Ich wehrte mich nicht. Dennoch stand ich unter Strom, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was als nächstes passierte.

»Ich dachte immer, alle würden mich verlassen.« Er wich meinem Blick aus. Vielleicht fiel es ihm auf diese Weise leichter, mit mir zu reden.

Aufmerksam guckte ich Noah an. Im Hintergrund donnerte es.

»Wenn mich also jeder irgendwann verließ, bräuchte ich weder freundlich noch hilfsbereit oder ähnliches sein. Ja, eigentlich wäre es sogar besser, würde ich die Menschen gleich verscheuchen, damit sie mich bloß in Ruhe ließen.« Seine Augen fanden meine.

»Du hast versucht, dich zu schützen.«, sagte ich.

Er nickte. »Weil es wehtut, sich auf jemanden einzulassen, der einen sowieso verlassen wird. Irgendwann habe ich einfach dichtgemacht. Ich habe wohl unterbewusst geahnt, dass ich das langwierige Kennenlernen, sich öffnen, alles geben und schließlich auch das Zurückbleiben kein weiteres Mal überstehen könnte, also habe ich eine Mauer um mich herum aufgebaut. Ich weiß nur nicht, wie ich sie einreißen kann, denn ich möchte es im Augenblick so sehr.«

Mein Herz machte einen Satz.

»Ich denke, den ersten Schritt hast du schon geschafft.«, sagte ich leise.

»Bist du dir sicher? Die Nähe zwischen uns ist mir jetzt schon unheimlich.«, entgegnete er.

Unsicher sah ich ihn an. »Willst du, dass ich weggehe?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich finde sie schön ... die Nähe zwischen uns.«, platzte es aus mir raus. Mir schoss die Hitze ins Gesicht und ich war mir sicher, Noah sah meine glühenden Wangen bereits, denn auf seinen Lippen breitete sich ein sanftes Lächeln aus.

»Vielleicht fühlt es sich ja nur so unangenehm an, weil ich verlernt habe, wie das ist, jemandem so nahe zu sein. Es ist einfach ungewohnt.«, mutmaßte er. Sein Gesichtsausdruck wurde nachdenklich.

Ich begann zu lächeln, als mir urplötzlich eine Idee kam. »Kannst du dir vorstellen, wie wir das Problem lösen könnten?«

Überrascht guckte er mir in die Augen. Für einen Moment stand die Welt still. Schwere Regentropfen benetzten unsere Haare und die Kleidung, aber wir waren völlig in den Bann des jeweils anderen gezogen.

»Konfrontation.«, sagte ich. »Das wäre doch ein guter Plan.«

»Ich habe mir in letzter Zeit so viele Pläne überlegt, da muss auch mal was ohne gehen.«, meinte Noah.

Er erstaunte mich, indem er eine Hand auf meiner Taille platzierte, um mich näher an sich heranzuziehen und die andere an meine Wange legte. Bei jedem Atemzug berührten sich unsere Oberkörper. Mein Herz pochte wie wild, als Noah sich vorbeugte. Sein heißer Atem streifte meine Lippen. Dann küsste er mich und es war, als hätten sich zwei Seelen gefunden, die einander schon länger gebraucht hatten als wir es nur erahnen konnten.

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt