Kapitel 3

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Nachdem ich die Augen aufgeschlagen hatte, zwitscherten die Vögel. Das Rauschen war aus meinen Ohren verschwunden. Jetzt malträtierte ein Piepen das Trommelfell und mein Kopf pulsierte, als hätte jemand mit einem Hammer draufgeschlagen. Benebelt tastete ich mir die Stirn ab. Ein leichtes Ziehen ließ mich auf einen kleinen Bluterguss schließen. Doch auf dem Zeigefinger klebte frisches, rotes Blut. Was war passiert? Wo waren meine Eltern? Wo waren der Sheriff, die Feuerwehr und der Rettungswagen? Und wo war ich überhaupt?

Verwirrt guckte ich mich um. Ich saß in einem grauen Geländewagen, dessen Windschutzscheibe gebrochen war. Der schmutzig weiße Airbag hing schlaff aus dem Armaturenbrett heraus. Scharfkantige Glassplitter befanden sich auf der Mittelkonsole und im Fußraum. Die Motorhaube des Wagens hatte sich gewölbt, war teils zerbeult und ein seltsamer Dampf stieg zischend in die Luft auf. Ich schob den Airbag beiseite und betrachtete meine Beine. Sie kribbelten, fühlten sich ein wenig taub an. Zaghaft berührte ich den Oberschenkel und fuhr mit dem Zeigefinger hinunter bis zum Knie. Wie betäubt vergrub ich das Gesicht in den Händen. Ich musste unsterblich sein. Oder zumindest ein riesengroßer Glückspilz. Sonst wäre ich heute schon mindestens dreimal gestorben. Auf eine gewisse Weise war ich das wohl auch. Die alte Julie, die ängstliche Julie. Aber jetzt, in diesem Augenblick, war das nicht nennenswert. Es stand zu viel auf dem Spiel. Deshalb hob ich tapfer den Blick.

Hinter der geborstenen Scheibe sah ich Bäume, und rechts von mir, nur haarscharf verfehlt, den Badesee, in dem mein Bruder und ich früher schwimmen gegangen waren. Dümpelte friedlich vor sich hin, so als wäre nicht vor wenigen Minuten ein Geländewagen in eine große Eiche gekracht.

Mühsam drückte ich gegen die Autotür. Sie klemmte. Immer wieder ruckelte ich an der Türöffnung, doch außer einem leisen Knarzen entlockte ich ihr kein Geräusch. Niedergeschlagen legte ich die Schläfe an die kühle Scheibe. Schmeckte den säuerlichen Staub, den die Airbags verursacht hatten. Langsam kehrten meine Erinnerungen zu mir zurück und fast automatisch wandte ich mich dem jungen Mann auf dem Fahrersitz zu. Sein Blut haftete an dem Stoffbezug des Sitzes und seiner Haut, die so blass wie bei einer Leiche aussah. Mit der Stirn vorweg lag er auf dem Lenkrad. Vermutlich war er bei dem Aufprall dort aufgeschlagen.

Vorsichtig beugte ich mich zur Seite, um ihn genauer zu inspizieren. Die Maske, die sein gesamtes Gesicht verhüllt hatte, war verrutscht. Ohne überhaupt darüber nachzudenken, griff ich nach einem Stück des weichen Stoffs und zerrte diesen in Richtung der Windschutzscheibe. Sein Kinn kam als Erstes zum Vorschein. Darauf folgten eine gerade Nase und geschlossene Augen, umrahmt von dunklen Wimpern. Unwillkürlich hielt ich inne, legte den Kopf schief und betrachtete den Mann mit größtem Misstrauen. Keine Ahnung, wie ich mir einen Kriminellen vorgestellt hatte, aber so definitiv nicht. Er wirkte wie ein normaler Junge, der vor kurzem seinen Highschoolabschluss beendet hatte. Das Einzige, das mich irritierte, war die Tatsache, dass seine Maskierung noch immer die Augenbrauen bedeckte. Das sah seltsam aus. Am meisten machte es mich traurig, weil ich an die Station im Krankenhaus erinnert wurde, auf der meine Mom gelegen hatte. Seitdem verband ich fehlende Brauen mit schweren Krankheiten. Und da nur noch ein winziges Stück fehlte, zupfte ich ein letztes Mal an dem Stoff, bis dieser achtlos zu Boden glitt und den Rest meines Kidnappers offenbarte. Eine blutige Platzwunde ging beinahe nahtlos in die groben Härchen seiner rechten Augenbraue über. Die Haut ringsherum war angeschwollen. Ich biss die Zähne zusammen. Er war bestimmt tot.

Es verstrichen einige Minuten, bis ich es schaffte, mich abzuwenden. Die Pistole lag wie unberührt auf der Mittelkonsole und meine Finger waren unkontrollierbar zittrig, als ich nach ihr griff. Behutsam und mit einer geballten Ladung an Respekt, legte ich die rechte Hand an die Waffe, so wie es die Agenten im Fernsehen taten. Ein Schauder jagte mir über den Rücken, während ich das todbringende Ding musterte, das sich so unschuldig an meine Haut schmiegte. Jetzt war es an der Zeit, einen Weg heraus aus diesem Auto zu finden. Da gab es exakt drei Möglichkeiten. Nummer eins brauchte ich gar nicht länger in Betracht zu ziehen, weil mir völlig klar war, dass ich keine Scheibe einschlagen und auf diese Weise herausklettern würde. Und die beiden anderen Optionen bestanden darin, entweder nach hinten zu klettern oder über den Mann hinweg zu steigen. Das wiederum würde Körperkontakt erfordern.

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