Kapitel 17

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Noah hatte mich an den Rand der Lichtung geführt. Nun konnte ich wieder den Fluss rauschen hören. Bei dem Gedanken fiel mir auf, wie ausgetrocknet meine Kehle war, und ich dachte unwillkürlich daran, wie verlockend es war, die Lippen und meine staubtrockene Zunge mit Wasser zu befeuchten.

Keine unnatürlichen Geräusche drangen zu uns durch, während wir abwartend dastanden und immer mal wieder einen Blick zu den Streifenwagen riskierten. Wollten sie uns nicht langsam festnehmen? Verwundert sah ich Noah an. Erst als er die Pistole und den Revolver in seinen Händen leicht bewegte, dämmerte es mir. Die Cops hatten Angst vor uns. Nein, sie hatten Angst vor Noah, korrigierte ich mich. Die Menschen, denen ich früher in einer Notsituation am meisten vertraut hätte, waren jetzt unsere Feinde. Der Täter, der junge Mann, vor dem sich die ausgebildeten Polizisten fürchteten, war so etwas wie mein Freund geworden. Mein Verbündeter. Wir waren ein Team.

»Willst du nicht versuchen, einen anderen Fluchtweg zu finden?«, fragte ich.

Noah schüttelte den Kopf. »Wir können weder vor, noch zurück.«

»Probieren wir es mit den Seiten.«, schlug ich vor.

»Noch nicht«, antwortete er.

Unruhig ließ ich meinen Blick schweifen.

»Sind diejenigen, vor denen du fliehst, Polizisten?«, wollte ich wissen.

»Nicht alle ... und die, die es sind, verdienen diesen Titel nicht.«, meinte Noah.

Ich war noch verwirrter als vorher. »Wie kann das sein?«

»In dieser Welt brauchst du nur einen Haufen Kohle zu besitzen und ein paar Geheimnisse deines Gegenübers zu kennen.« Noah schaute sich wieder um.

»Also wurden die Menschen erpresst?«, hakte ich nach.

»Was weiß ich«, entgegnete Noah spitz. Als sich unsere Augen streiften, traf mich Wut. Immer noch besser als die eiskalte Gleichgültigkeit, die Noah sonst ausstrahlte, dachte ich mir insgeheim. So hatte ich wenigstens das Gefühl, er wäre ein Mensch und kein Roboter.

Wie auf glühenden Kohlen standen wir an dieser Stelle noch weitere zehn Minuten, in denen nichts passierte. Ich legte die Hand an die Stirn, weil mich das gleißend helle Sonnenlicht blendete, und fokussierte die Autos, deren Lack reflektierte.

»Die haben uns nicht gesehen.«

»Doch, ganz sicher.«, murmelte Noah.

Ich wendete mich ab. Mit schnellen Schritten lief ich zum Wald zurück, aus dem wir gekommen waren. Im Schatten und zwischen den Bäumen würde man mich wenigstens nicht so leicht erkennen wie auf der Wiese in der Sonne.

Hinter mir konnte ich Noah etwas sagen hören, doch er sprach viel zu leise, als dass ich ihn hätte verstehen können.

Plötzlich raschelte es im Gebüsch. Noch bevor ich die erste Baumreihe erreichte, stolperte ich wieder zurück. Da war jemand. Noah hatte recht. Wir waren nicht alleine. Irgendwer hatte uns entdeckt und bereits ins Visier genommen.

»Noah« Ich zitterte wie Espenlaub. Meine Beine waren schwach und mein Schädel schmerzte heftig.

»Ganz ruhig«, flüsterte Noah. »Komm her.«

Langsam rückwärts gehend erreichte ich ihn. »Werden sie uns erschießen?«

Noah zögerte.

»Nein«, sagte er. Sein ganzer Körper strahlte das Gegenteil aus. Die Haltung, mit der er sich vor mich schob, war furchteinflößend. Die Art, wie Noah den Revolver links und die Pistole rechts umklammerte, in jede Richtung zielend, jagten mir Angst ein.

Blinzelnd sah ich zum Wald. Hinter mehreren Bäumen traten in schwarz gekleidete Männer mit Sicherheitswesten hervor. Helme schützten ihre Köpfe und dicke, ebenso schwarze Hosen ihre Beine. Dagegen waren Noah und ich absolut schutzlos.

Vor Furcht erstarrt, blickte ich zwischen den Polizisten hin und her. Sie richteten ihre Pistolen, die deutlich größer waren als Noahs, angespannt auf uns, immer darauf gefasst, dass Noah eine Schießerei beginnen könnte. Mit jedem Schritt, den sie sich uns näherten, raschelte das Gras an ihren Beinen.

Schritte aus der anderen Richtung ließen mich hellhörig werden. Ich drehte mich ein wenig, und erschrak, als ich weitere Polizisten in Schutzkleidung auf uns zusteuern sah. Zwischen den hohen Gräsern duckten sie sich leicht und erinnerten mich fast ein bisschen an Käfer. Viele, viele, übergroße schwarze Käfer mit Panzer auf dem Rücken, die auf mich zuliefen, um mich umzubringen.

Noah wich automatisch nach links aus. Schützend breitete er seine Arme aus, damit ich hinter seinem Körper verschwand. Ängstlich und mit hektischem Blick musterte ich die Polizisten. Es machte den Eindruck, als wäre ihnen völlig egal, ob wir leben oder sterben würden. Wahrscheinlich war es das auch. Wir standen immerhin auf unterschiedlichen Seiten.

Tränen brannten in meinen Augen. Es war, als würde alles auf mich einprasseln. Erinnerungen an vergangene Ereignisse, Mums Krankheit und selbst der verpasste Zusatzkurs in Physik fühlte sich an, als hätte ich ein Menschenleben auf dem Gewissen. Ich vermisste Mums Umarmungen. Ich vermisste Dads ganz bestimmte Weise, wie er uns zum Lachen brachte, und Conors und meine Neckereien. Selbst die Unordnung meines Bruders vermisste ich so stark, dass es schmerzte.

Für den Bruchteil einer Sekunde zog ich in Erwägung, mich an Noah vorbeizuschieben und mich zu stellen. Soweit ich das Gesetz kannte, durften sie mich dann nicht mehr erschießen. Ob ich als unschuldig angesehen wurde, stand noch immer in den Sternen, doch ich sehnte mich so sehr nach zu Hause, dass mir alles recht war. Alles, nur nicht sterben. Und ich kannte Noahs Chance, die nächste Stunde zu überleben. Er war am Ende angekommen. Hier gab es keine Fluchtmöglichkeiten mehr, keine Lösung, keinen Ausweg, nur noch den unausweichlichen Tod.

War es nun schon so weit gekommen, dass ich überlegte, wie ich alleine aus der Sache rauskam? Beschämt betrachtete ich den Rücken des Jungen, der mich mit seinem ganzen Körper vor möglichen Kugeln schützte. Dass ich mich überhaupt in solch einer Situation befand, war ganz klar seine Schuld. Sobald ich mir allerdings vor Augen führte, wie spontan Noah seinen Plan geändert hatte und mit mir durch die Hintertür vom Haus seines Onkels geflohen war, oder wie er seinen Plan am Fluss erneut für mich geändert hatte, weil ich mit meinem verletzten Knöchel nicht klettern konnte, musste ich mir eingestehen, dass es egoistisch wäre, ihn nun im Stich zu lassen. Ohne mich wäre Noah bereits über alle Berge. Würde er nun sterben, wäre das allein deshalb, weil er mich hatte retten wollen. Dumpf trafen mich Schmerz und der blanke Hass auf mich selbst, den ich schon seit Monaten nicht mehr gespürt hatte. Zuletzt an dem Tag, an dem meine Mum fast gestorben wäre.

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