Kapitel 64

1K 70 14
                                    

Ich bekam keinen Bissen herunter. Miles hingegen stopfte sich den Mund voll, als hinge sein Leben davon ab. Anscheinend hatte es auf uns alle eine ziemlich unterschiedliche Wirkung, dass Noah in diesem Augenblick weit weg bei Agent Roberts war, quasi unerreichbar für uns, und noch längst nicht außer Gefahr.

Nach einer Weile schob ich den Teller von mir weg. Jake, der lustlos auf seinem Abendessen kaute, sah mich kurz, aber verständnisvoll an.

»Ich gehe nach oben.«, sagte ich leise und schob den Stuhl zurück.

Jake schluckte den Bissen herunter. »Julie, warte.«

Ich guckte ihn aufmerksam an.

»Ich habe mich gefragt, was du wegen der neusten Information unternehmen willst.« Jakes eindringlicher Blick verriet mir, dass es um Noahs Tante ging.

Schulterzuckend stand ich auf. »Das weiß ich noch nicht.«

»Okay.« Er nickte.

»Ich gehe dann« Ich deutete mit dem Daumen hinter mich.

An der Treppe hielt ich noch einmal inne. Jake redete mit Miles, der sich gerade eine weitere Gabel mit Macaroni in den Mund schaufelte. Es war merkwürdig, sie ohne Noah zu sehen. So anders ...

***

Ich stellte mich unter die Dusche und genoss das Prasseln des warmen Wassers auf meiner Haut. Danach cremte ich mich ein, zog mir gemütlich Kleidung zum Schlafen an und putzte die Zähne. Unterdessen dachte ich an früher, als ich noch während des Duschens gesungen hatte. Als meine größte Sorge gewesen war, welche Note ich in der nächsten Physikprüfung schreiben würde und woraus sich irgendwelche Chemikalien genau zusammensetzten. Mittlerweile machte ich mir Sorgen, wann ich ein Menschenleben auf dem Gewissen haben würde. Damals und heute konnte man nicht mal ansatzweise vergleichen.

Verzweifelt raufte ich mir die Haare. Dann stellte ich den Wasserhahn wieder an und klatschte mir eine ganze Ladung kaltes Wasser ins Gesicht. Die feinen Tropfen perlten langsam von meiner Haut ab und tropften zurück ins Waschbecken. Ich starrte mein Spiegelbild an. Ausschnitte von jenem Tag, als wir im Auto gesessen und ich die Pistole verlangt hatte, jagten durch meinen Kopf. Ich konnte den Schuss noch immer in meinen Ohren widerhallen hören. Das würde ich vielleicht auch dann noch, wenn ich Conor umarmte oder bei meinen Eltern am Tisch saß. Eigentlich gehörten Mörder ins Gefängnis. Mörder wie Noah. Menschen, die Beihilfe zu Mord geleistet hatten wie Miles, Jake und ich.

Ein Klopfen riss mich aus den Gedanken. Ich stellte den Wasserhahn aus und trocknete mein Gesicht ab. Mit der Haarbürste in der Hand öffnete ich die Badezimmertür. Ich senkte das Kinn, in der Hoffnung, Miles oder Jake hätten es so eilig, ins Bad zu kommen, dass sie mir keine Fragen stellen würden.

Als ich jedoch die Jeans und Sneakers meines Gegenüber erkannte, blieb mir die Luft weg. Es war Noah. Er war schon zurück.

»Wie war es?«, fragte ich heiser und hob den Blick. Mein Herz schlug schneller, der Schmerz flammte neu in mir auf.

»Bis morgen haben wir alles, was auf der Liste steht, im Auto.«, erwiderte er knapp. Die Anspannung zwischen uns tat weh.

Rasch schob ich mich an Noah vorbei und rettete mich in unser Schlafzimmer. Dort machte ich sofort das Licht aus. Im dunkeln tappte ich zum Bett, wo ich mir die Decke bis zum Hals zog und irgendwie wieder zu Atem zu kommen versuchte. Wenn ich mir vorstellte, dass meine Tochter verschwand und irgendwann wieder vor meiner Tür auftauchte, das FBI hinter ihr, wäre ich vermutlich aufgebracht. Stünde zusätzlich ein junger Mann neben ihr, würde ich wohl durchdrehen vor Misstrauen und Angst um sie. Das war nicht das, was ich mir für mein Kind wünschen würde. Lieber schlechte Schulnoten oder die absurden Vorstellungen einer spontanen Karriere als Rockstar. All das könnten wir bewältigen. Ich wusste, meine Mum dachte genau wie ich. Mein Dad hingegen achtete eher auf die Träume seiner Kinder und nahm nicht so ernst, wie realistisch diese waren. Er schien sich allgemein selten zu fragen, wie wahrscheinlich es war, dass Conor irgendwann mal Profi im Football werden würde. Er unterstützte ihn bloß, vertraute darauf, dass sein Sohn seinen Weg finden würde. Dad hatte auch bei mir nie Zweifel gehabt. Kein Wunder, ich hatte mich jederzeit vorbildlich verhalten. Ganz wie meine Mutter; Auf die Highschool konzentrieren, keine unnützen Freundschaften pflegen oder Partys besuchen und zielstrebig auf das Jurastudium an einer Eliteuniversität hinarbeiten.

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt