Kapitel 30

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Meine Hand war geschwollen. Vorsichtig tastete ich die schmerzenden Knöchel ab und bewegte die Finger in Zeitlupe. Dass es so wehtun würde, jemanden zu schlagen, hatte ich nicht gedacht. Allgemein hatte ich nicht erwartet, überhaupt jemals jemanden zu schlagen. Gewalt war nie eine Lösung für mich gewesen.

»Glaub mir«, sagte Noah. »Morgen ist es besser.«

Ich ließ von meiner Hand ab. Es hatte vollständig aufgehört zu regnen. Das Gewitter war vorüber und die Dämmerung brach über uns herein.

Noah lehnte sich zurück und ich kuschelte mich an seinen warmen Körper. So saßen wir auf der Rückbank des Autos, in dem Miles und ich gefahren waren. Nachdenklich betrachtete ich die Mittelkonsole und blickte hinaus durch die Windschutzscheibe. Ich hätte Jake nicht schlagen dürfen. Auch hätte ich nicht auf diese Art über Miles entscheiden oder Noah in diese blöde Situation bringen dürfen.

Behutsam legte Noah seinen Arm um mich. Seine Finger glitten durch mein Haar, und ich lauschte seiner gleichmäßigen Atmung.

»Wie kam es dazu, dass sich dein Vater darauf eingelassen hat, eine Statik für Bruce Edwards zu machen?«, fragte ich.

Für einen Moment blieb es still. Dann spürte ich, wie Noah inne hielt, als würde er sich an etwas wichtiges erinnern, dass ihn durch jede noch so kleine Ablenkung wieder entfallen könnte.

»Wir waren pleite« Noahs Stimme war so nah an meinem Ohr, dass ich eine Gänsehaut bekam, »Und als eines Tages ein Bauherr zu einem Termin auftauchte, der meinem Dad viel Geld bot, ergriff mein Dad die Chance. Jeder hätte das getan.«

Er atmete tief ein. »Ich musste immer in mein Zimmer gehen und leise sein, während solcher Termine. Dad bekam den Auftrag und auch das Geld. Es war alles gut ... Meine Mum hatte wieder Hoffnung ... Aber irgendwann kam ich nach der Schule nach Hause, und meine Eltern waren tot.«

Mein Herz blieb fast stehen, als er das sagte.

»Mein Onkel nahm mich zu sich. Je älter ich wurde, desto schwieriger war es für mich, mit der Vergangenheit klarzukommen. Ich war immer noch ein halbwegs guter Schüler und begann mir zu dem Zeitpunkt Gedanken darüber zu machen, was ich mal werden wollte. Nach einem Praktikum kam ich nach Hause - ich hatte Kopfhörer auf und bemerkte erst nichts - , aber als ich aus der Küche zurückkam, hatte der Song geendet und ich hörte die Stimme von Bruce Edwards. Er war bei uns und alles schien von vorne zu beginnen.«, erzählte Noah.

Seine Hand rutschte von meinen Haaren hinab zu meiner Schulter, wo er mit seinem Finger kleine Kreise zu malen begann.

»Von da an hatte mein Onkel oft Termine, die nicht in seinem Kalender eingetragen waren. Ich habe im Nachhinein absolut nichts darüber finden können ... nirgendwo. Nur diese eine Notiz, die du auf Miles Laptop gesehen hast. Ich habe sie vor dem Tod meines Onkels abfotografiert.«, sagte Noah.

Ich drehte mich in seinen Armen, um ihn ansehen zu können. Mein Kinn berührte Noahs Brust, als ich zu ihm aufschaute.

»Jeden Abend vor dem Schlafengehen hat mein Onkel eine Datensicherung von seinem Computer gemacht. Er zeigte mir oft seine Arbeit und nahm mich mit auf Baustellen. An jenem Tag hatte er einen Termin mit einem Bauherrn, zu dem ich ihn begleiten sollte.« Noah machte eine kurze Pause, »Ich kam nach Hause, und sah, wie Bruce Edwards aus seinem Wagen ausstieg. Er war in Begleitung von drei in zweitauend Dollar Anzügen gekleideten Männern.«

Tränen stiegen mir in die Augen. Es zerriss mir das Herz, Noah über seine Familie reden zu hören.

»Sie haben ihn erschossen und seine Leiche weggeschafft. Danach haben sie unser Haus auf den Kopf gestellt und alles vernichtet, was irgendwie relevant für die Cops sein könnte.« Noah sprach monoton, als könnte ihm niemand etwas anhaben. Er schien langsam in eine andere Welt abzudriften.

Ich berührte ihn am Arm. »Was hast du danach getan?«

»Realisiert, dass ich alleine bin.«, antwortete Noah. »Anschließend bin ich ins Haus gegangen, habe den USB-Stick aus unserem Geheimfach genommen und bin abgehauen.«

Er sah zu mir herunter, direkt in meine Augen. »Danach habe ich einen Plan geschmiedet, bin in den Copy-Shop gegangen, um die Dokumente zu drucken und habe mich mit Miles und Jake getroffen, um ihnen die Beweise zu übergeben. Alles Weitere weißt du besser als ich.«

»Ich bin froh, dich zu kennen.«, flüsterte ich.

Noahs Miene wurde weicher. Sanft strich er mir eine verlorene Haarsträhne aus dem Gesicht, während er mich weiterhin stumm aus seinen grünen Augen anguckte. Mein Herz bebte und in meinem Bauch flatterten Schmetterlinge. So etwas hatte noch nie ein Junge in mir ausgelöst. Ich hatte das Gefühl, nichts an Noah könnte mich jemals stören. Ich mochte, wie er über die Dinge dachte, wie er redete und ganz besonders die Art und Weise, wie er mich berührte. Noah war sanft und voller Gefühl. Auf ihm lastete Schmerz. Tiefer, einnehmender und herzzerreißender Schmerz. Aber bei jeder seiner Berührungen konnte ich spüren, welch eine bedingungslose Liebe dieser Junge geben konnte. Er verdiente es, dass ihm jemand zuhörte und sein Selbstvertrauen stärkte. Dass ihm jemand immer und immer wieder sagte, wie wundervoll er war, damit irgendwann die guten Erinnerungen überwiegen würden.

Plötzlich begann es wieder zu regnen. Ich brach Noahs und meinen Blickkontakt und lehnte meine Wange wieder an seine Brust. Noah hielt mich fest. Seine Hand drückte meine Schulter und an meinem Haaransatz spürte ich sein Kinn.

Der Regen prasselte auf das Autodach. Es war bereits stockdunkel geworden, und meine Lider wurden mit jeder Sekunde schwerer. Meine Glieder schmerzten von dem langen Tag auf den Beinen. Jede Faser meines Körpers sehnte sich nach Schlaf, doch ich konnte einfach nicht aufhören, nachzudenken.

Immer wieder stellte ich mir vor, wie Noah die Mörder seines Onkels auf das Haus zumarschieren sah, ohne eingreifen zu können. Ich konnte den Schuss in meinen Ohren nachhallen hören, und ich wünschte mir, irgendetwas an der Vergangenheit ändern zu können. Hätte ich nur einen Wunsch, dann hätte ich ihn früher mit Sicherheit für meine Mum eingesetzt, damit sie vom Krebs geheilt wurde. Jetzt zweifelte ich daran, weil ich genau wusste, dass meine Mum zu jeder Minute und an jedem Tag ihrer Erkrankung gewusst hatte, wie sehr ihre Familie sie liebte. Meine Mum wäre nicht alleine gestorben, nicht verblutet oder ohne, dass wir ein letztes Wort mit ihr gewechselt hätten. Sie wäre friedlich und ohne Schmerzen in unseren Armen eingeschlafen. Falls ich also einen einzigen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, dass Noahs Onkel noch lebte. Auch, wenn das bedeuten würde, dass wir uns niemals kennengelernt hätten. Ein Junge wie Noah hätte garantiert ein Mädchen gefunden. Keine Frage. Er wäre ein begnadeter Ingenieur geworden, um den sich die Welt reißen würde, und er hätte noch viel Zeit mit seinem Onkel verbringen können.

Ich schloss die Augen. Müde lauschte ich dem Regen und Noahs gleichmäßiger Atmung.

Er war eingeschlafen.

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt