Kapitel 37

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In Prüfungen war es manchmal so, dass ich mich sicher gefühlt, und letztlich mit meinen Antworten trotzdem total daneben gelegen hatte. War es die Selbstüberschätzung gewesen, die mich zu Fall gebracht hatte? War es das Schicksal gewesen?

Der Wind rauschte in meinen Ohren. Ich umklammerte die rabenschwarze Pistole, während ich stoßweise atmete. Anders wäre ich vermutlich erstickt.

Bäume zogen an mir vorbei, aber ich konnte nicht anders, als den Range Rover mit den getönten Scheiben im Auge zu behalten. Die Windschutzscheibe hatte ein Loch. Das Glas drumherum war von Splittern und Blutspritzern geziert und winzige Risse zogen sich bis zu den Scheibenwischern hinunter. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte ich gedacht, ich könnte sie ablenken. Vielleicht mit einem Schuss nach links oder rechts, der sie knapp verfehlt hätte, ... Vielleicht ein Schuss auf die Motorhaube, aber niemals hätte ich mit einem Treffer durch die Windschutzscheibe gerechnet.

Wie sollte ich damit leben können, einem Menschen das Leben genommen zu haben?

Der Mann auf dem Beifahrersitz kippte zur Seite. Mein Herz setzte aus. Ich konnte seine Umrisse durch die zerstörte Scheibe nur unscharf erkennen, und ich konnte ihm nicht helfen. Eigentlich hätte ich ihm auch nicht helfen dürfen. Ich musste diese Gefühle unterdrücken, irgendwie wegschieben, oder sie wie auf dem Desktop meines Laptops in den Papierkorb verschieben. Sie hatten keine Daseinsberechtigung. Was war ich für eine Freundin, wenn ich Mitgefühl mit den Gegnern hatte?

Ich dachte an Conor. Unwillkürlich fielen mir all die Momente ein, in denen er stolz darauf gewesen war, mein Bruder zu sein. Ab heute würde alles anders sein. Ich war nicht länger das unschuldige Mädchen, als welches man mich gekannt hatte. An meinen Händen klebte Blut. Zu viel Blut für ein Mädchen in meinem Alter. Jetzt bräuchte ich mir keine Sorgen mehr um meine Ausbildung zu machen. Ich könnte mich ganz entspannt auf meine Zeit im Gefängnis vorbereiten, denn diese würde mit Sicherheit auf mich zukommen.

Wir gewannen Abstand zu dem Range Rover. Mein Schädel brummte als hätte ich einen Schlag ins Gesicht bekommen. Langsam zog ich den Kopf ein und lehnte mich im Sitz zurück. Ich würde niemals wieder jemandem aus meiner Familie oder meinen Lehrern unter die Augen treten können.

Schlagartig veränderte sich meine Sichtweise. Plötzlich drängte sich der Tote in den Vordergrund meiner Gedanken, und meine Tat begann auf meinen Schultern zu lasten als hätte mir die Leiche ihre kalten Finger um den Hals geschlungen, um sich an mir festzuhalten. Ob mich seine Verwandten suchen würden? Würden sie mich erschießen und an mir rächen wollen, wie Noah für seine Familie?

Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht. In unserem Auto war es totenstill geworden. Man hätte die Luft schneiden können, so geladen war sie. Jakes und mein Blick streiften sich im Rückspiegel. Seine Miene wurde weich. Er wusste, was ich durchmachte.

»Es ist so wie mit allen Dingen. Das erste Mal ist am schwersten. Danach wird es einfacher.«, sagte Jake.

»Das war nicht ihr erster Schuss. Sie hat schon für Noah geschossen.«, warf Miles ein.

Jake fasste sich mit der Hand an den Kopf, um zu demonstrieren, dass er mein Ablenkungsmanöver völlig vergessen hatte.

»Da habe ich aber nicht auf einen Menschen geschossen, sondern in die Luft.«, sagte ich matt. »Das ist etwas ganz anderes.«

Stillschweigend fuhr Jake nach rechts und bog in eine kleinere Straße ein, die von Wiesen und Feldern gesäumt war. Unsere Verfolger waren schon seit geschlagenen fünf Minuten nicht mehr zu sehen.

»Es sollte nicht einfacher werden.«, murmelte ich nach einiger Zeit, als wir bereits seit fünf Minuten am Rand eines Feldes parkten. Jake war wortlos ausgestiegen. Er lief den Weg entlang, immer weiter, ohne sich auch nur einmal nach uns umzusehen.

Miles drehte sich zu mir um. Den Arm stützte er dabei auf der Mittelkonsole ab. »Hör nicht auf ihn. Es wird nicht einfacher zu ertragen. Man lernt bloß, irgendwie damit umzugehen. Fertig wirst du damit nie.«

Stumm raufte ich mir die Haare.

»Bestrafe dich nicht dein Leben lang für das, was gerade passiert ist.«, sagte Miles.

»Wie könnte ich mich nicht dafür bestrafen?«, fuhr ich ihn an. »Ich war so darauf fixiert, dass wir überleben müssen, dass ich nicht daran gedacht habe, inwiefern ich jemand anderes wehtun könnte. Oder seiner Familie.«

Meine Haare standen mir zu Berge. Ich war so aufgewühlt, dass ich meinen Herzschlag in meinem Kopf widerhallen hören konnte.

»Wäre es für dich weniger schlimm geworden, wären wir jetzt tot?«

Nein. Ich schluckte schwer.

»Du hast uns das Leben gerettet.«

Das klang fast so, als wäre ich eine Heldin. Ich wünschte, Miles würde das anders sehen.

»Hast du mal auf einen Menschen geschossen?«, fragte ich ihn.

Miles versteifte sich. Mit einer solchen Frage hatte er wohl nicht gerechnet. Seine Augen verdunkelten sich und seine Mimik wirkte gekünstelt, während die Stille im Auto unzumutbar wurde. Vielleicht hätte ich lieber nicht fragen sollen.

Irgendwann räusperte er sich.

»Du brauchst das nicht zu-«

»Ich habe nicht geschossen, aber ich habe es miterlebt.« Miles hob das Kinn. »Ich hätte vielleicht etwas ausrichten können. Nur ein einziges Mal ... Und ich habe gekniffen.«

»Bereust du es sehr?«, wollte ich wissen.

Er suchte den Blickkontakt und für einen Moment, in dem wir uns stillschweigend in die Augen sahen, dachte ich, spüren zu können, wie ihn die Schulgefühle zerfraßen. Mein Herz tat weh. Es war entsetzlich. Viel schrecklicher, als wenn ich selbst mit meinen Gefühlen klar kommen müsste.

»Ich bereue es jeden Tag.« Gequält verzog er das Gesicht. »Von Morgens bis Abends, und die Nacht ist am schlimmsten.«

Tränen sammelten sich in meinen Augen. Instinktiv wischte ich sie mir mit dem Handrücken weg.

»Es ist zwei Jahre her. Ich war sechzehn. Ein Freund von mir klaute Schmuck und verkaufte ihn an Fremde auf der Straße. Eines Tages begleitete ich ihn. Wir verhielten uns wie dumme Jungs, haben nicht nachgedacht ... Wir waren schlichtweg leichtsinnig. Dann gerieten wir an einen Kerl, der nicht zahlen wollte. Da ist mein Freund ausgerastet. Ich hätte ihn aufhalten müssen, war allerdings zu nichts mehr imstande, als er einen Revolver hervorzog und schoss.«, erzählte Miles gefasst. Plötzlich wich ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht. Sein Blick glitt an mir vorbei zu Noah, und seine Pupillen weiteten sich.

Nicht ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt