Kapitel 20

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Der State Highway schien kein Ende zu nehmen. Die Landschaft veränderte sich kaum. Ich sah hin und wieder mal ein Haus, ansonsten bloß Wälder. Im Auto blieb es größtenteils ruhig. Der Mann, der vorhin telefoniert hatte, saß am Steuer. Neben mir befand sich die Polizistin, die mir die Wasserflasche gegeben hatte. Wachsam beäugte sie mich, als ich mich umdrehte und den Wagen hinter uns inspizierte. Wahrscheinlich saßen darin die anderen Polizisten.

Ich überlegte, ob ich nicht doch einen klitzekleinen Schluck aus der Wasserflasche nehmen sollte. Langsam fühlte sich meine Kehle so trocken an, dass ich kaum noch schlucken konnte, ohne die Schmerzen in meinem Hals zu ignorieren.

»Willst du ihr nicht wieder die Handschellen anlegen?«, erkundigte sich der Fahrer. »Fußfesseln haben wir auch dabei.«

»Jim, sie war bis gerade eben noch ohnmächtig.« Die Frau musterte mich, »Außerdem ist sie wehrlos ohne Waffe.«

Sie hatte recht. Ich war ausgeliefert.

»Das Mädchen hat mehrfach geschossen.«

»Nicht auf uns.«, fügte die Frau hinzu. »Sie wird uns nichts tun. Die Türen sind verriegelt, und in einer halben Stunde, sobald wir die Stadt erreichen, lege ich ihr wieder Handschellen an.«

Der Polizist, Jim, knirschte mit den Zähnen, doch er sagte nichts mehr.

Sobald wir die Stadt erreichen, wiederholte ich die Worte der Polizistin in Gedanken, und versuchte, mich einigermaßen zu orientieren. Leider kannte ich die Gegend überhaupt nicht, doch ich war mir halbwegs sicher, wenn es noch eine halbe Stunde bis zur Stadt dauern würde, müsste gleich eine Kreuzung auftauchen. Denn am Ende dieser Straße verbarg sich allerhöchstens eine Tankstelle, aber garantiert keine größere Stadt.

Der Fahrer schaute in den Rückspiegel.

»Wo sind sie?«, fragte er mit einem Mal. In seinem Tonfall lag Beunruhigung.

Von wem sprach er?

Die Polizistin drehte ihren Kopf. In exakt diesem Moment kreuzte ein Feldweg die Straße. Ein schwarzes Auto schoss zwischen den Büschen hervor. Mir gefror das Blut in den Adern. Ich krallte mich an dem Sitz fest, während der Fahrer auf die Bremse trat. Mit quietschenden Reifen schlitterten wir auf den schwarzen Wagen zu, der nun quer auf der Straße stand.

»Was soll der Scheiß?«, grummelte der Polizist, als wir den anderen Wagen um Haaresbreite verfehlten, und schnallte sich ab. Er öffnete die Fahrertür und ließ diese offen stehen, während er wütend zu dem anderen Auto hinüber stapfte.

Ich beobachtete das Geschehen durch die Windschutzscheibe. Ein junger Mann stieg gerade aus dem schwarzen Wagen aus. Zugegebenermaßen hatte ich wirklich ein wenig gehofft, dass es Noah war. Aber wie zu erwarten, war er es nicht. Noah war vermutlich schon weit, weit weg von hier.

Die Unterhaltung zwischen dem Polizisten Jim und dem Fahrer des anderen Wagens schien hitzig. Irgendwann hob der junge Mann abwehrend die Hände, als wollte er beteuern, dass dies keine Absicht und nur ein blödes Versehen gewesen war. Er hielt sich an der Fahrertür seines Autos fest, als wollte er gleich wieder einsteigen. Jim fuchtelte mit dem Finger in der Luft herum. Ich schnappte die Worte Verantwortungsbewusstsein und Idiot auf. Der junge Mann fuhr sich durch die schwarzen Haare. Anhand seines Gesichtsausdrucks konnte ich erkennen, dass er sich an einer Wiedergutmachung versuchte. Dass das bei Jim nicht funktionieren würde, hätte ich ihm vorher sagen können. Er schien mir von Anfang an sehr überzeugt von seinen Ansichten zu sein. Allenfalls seine Kollegin schien da etwas ausrichten zu können.

Mit einem Kopfschütteln endete die Diskussion. Jim kehrte dem Mann den Rücken zu. Seine Stirn lag in Falten und die paar grauen Haare, die er noch hatte, standen ihm zu Berge.

Der Polizist schwang sich wieder zu uns ins Auto. »Die jungen Leute von heute denken auch, sie können sich alles erlauben.«

»Jim, entspann dich. Wir haben es eilig.«, beschwichtigte die Polizistin. »Kannst du mal versuchen, die anderen per Funk zu erreichen? So weit zurück liegen können sie doch gar nicht.«

Ihr Kollege griff nach dem Funkgerät, dass sich auf dem Armaturenbrett befand. Müde blickte ich hinab auf die Wasserflasche, die bei der heftigen Bremsung vom Sitz gerollt und in den Fußraum gefallen war. Ich war so durstig.

Das Funkgerät piepte und knackste. Ich hob das Kinn und sah, wie der junge Mann wieder auftauchte. Jetzt hielt er etwas in der Hand. Es sah aus wie eine Dose. Moment mal ... War das Limonade? Wieso verschenkte der Kerl Limonade an zwei Cops?

»Ich möchte mich nochmal für das Missgeschick entschuldigen«, begann er, kaum hatte der junge Mann die Fahrerseite erreicht. »Normalerweise ist auf dieser Straße nichts los.«

»Nächstes Mal verlässt du dich besser nicht darauf.«, keifte Jim.

Die Polizistin atmete hörbar aus.

»Officer-«

»Detective.«, korrigierte Jim. Meine Augen weiteten sich. Noahs und meine Flucht musste wohl ziemlich große Wellen geschlagen haben.

»Sorry. Detective, mein Dad war auch bei der Polizei, daher weiß ich, dass dies kein einfacher Job ist. Ich möchte mich wirklich entschuldigen.«, redete der Mann unbeirrt weiter. Sein Gesicht verschwand aus meinem Sichtfeld, direkt hinter der Lehne des Detectives.

Jim wirkte verärgert. Er öffnete den Mund, um eine Antwort zu knurren, da beugte sich der Kerl dreist vor und guckte ins Fahrzeug.

»Jetzt reicht es!« Jim ballte die rechte Hand zur Faust. Der junge Mann sah dies erst zu spät, da schnellte ihm die Faust auch schon ins Gesicht. Er geriet für einige Sekunden ins Taumeln, dann fing er sich wieder und stützte sich lässig mit dem Arm an der Tür ab. In seiner Hand würgte er die Dose. Gleich würde Jim über und über bekleckert sein mit Limonade. Auch die Polizistin schien dies kommen zu sehen, denn sie wollte sich gerade ungeduldig einmischen, da entwich der seltsamen Dose plötzlich ein zischendes Geräusch und ein kräftiger Strahl. Der junge Mann schmiss die Dose ins Fahrzeuginnere. Nebel stieg auf und verschleierte uns die Sicht. Meine Augen begannen zu tränen und wie verrückt zu jucken. Meine Atmung ging schwer. Die Luft brannte wie Feuer in meiner Nase und in meinem Hals, und ich keuchte panisch, weil ich das Gefühl hatte, zu ersticken.

Eine Autotür wurde aufgebrochen. Ich bekam nicht viel mit. Nur, dass mich jemand wie einen nassen Sack aus dem Streifenwagen herauszog und über den Asphalt schleppte. Benommen nahm ich wahr, wie die Hintertür des fremden, schwarzen Wagens aufgerissen wurde. Jemand kräftiges hob mich auf einen weichen, gepolsterten Sitz, schlug die Autotür zu und setzte sich eilig hinter das Steuer. Mühsam versuchte ich, die Augen offen zu halten, aber gegen die entsetzliche Müdigkeit kam ich nicht an. Und schließlich wurde alles schwarz.

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