Kaum dass Jake mit der Apothekerin hinter dem Tresen und im Lagerraum verschwunden war, blickte ich mich nervös im Laden um. All die freiverkäuflichen Medikamente standen ordentlich aufgereiht in einem großen braunen Wandschrank. Ein weiterer dieser Machart befand sich auch an der Wand hinter dem Tresen, direkt neben der Tür, die ins Lager führte. Es war fast ein wenig unheimlich, wie viele Medikamente es mittlerweile freiverkäuflich gab. Ob das reine Geldschneiderei war?
Geräusche ließen mich schlagartig aufschauen. Jake lief auf mich zu. Er sprang über den Tresen, wobei er eine Tüte mit Traubenzucker herunterriss. Hastig zerrte er mich mit sich zum Ausgang. Ich blickte im Gehen über meine Schulter zurück und sah die Apothekerin nach einem Telefon greifen, während sie vergeblich versuchte, sich ihre dramatisch verschmierte Mascara aus dem Gesicht zu wischen.
Eilig stürmten Jake und ich aus der Apotheke hinaus in die Freiheit. Einzelne Sonnenstrahlen erhitzten unsere Haut, während wir auf das Auto zusteuerten. Ich riss die Hintertür auf. Mein Herz hämmerte wild gegen meinen Brustkorb und das Adrenalin jagte durch meine Venen als gäbe es kein Morgen. Jake sprang ins Auto. Miles bombardiertet uns mit Fragen, doch Jake drückte ihm bloß stumm die Pistole in die Hände und ließ den Motor an, um ohne auf das Tempolimit zu achten, vom Parkplatz zu sausen.
Häuser rauschten an uns vorbei. Bäume tauchten am Horizont auf und verschwanden kurz darauf wieder hinter uns. Die Sirenen übertönten das Gezwitscher der Vögel draußen und die Motorengeräusche, die meine Ohren hier im Auto malträtierten.
Ich krallte die Hände in den Sitz. Meine Handflächen waren schweißnass und das Beben meines Herzens ließ nur extrem langsam nach. Immer mal wieder sah ich mich um, doch hinter uns befanden sich keine Zivilfahrzeuge. Die Sirenen verstummten allmählich, während wir weiterfuhren und uns mal wieder nach einem halbwegs entlegenen Feldweg umschauten, an dem wir die Nacht verbringen könnten. Leider wurden die Regionen in Richtung Chicago immer städtischer, sodass unser Versteck alles andere als optimal war. Trotzdem hielt Jake an, denn der Tank war fast ebenso leer wie unser Vorrat an Essen und zu alledem waren wir nicht nur ziemlich müde, sondern mussten uns auch um Noah kümmern. Seit unserer Entdeckung der Blutvergiftung waren zwei Stunden vergangen und er wurde glücklicherweise von Minute zu Minute, in der das Beruhigungsmittel nachließ, ein wenig wacher.
»Hier, Julie«, sagte Jake und zerrte eine Packung Tabletten und eine Salbe aus der Hosentasche. Ich nahm beides entgegen, spürte die erhabenen Punkte der Blindenschrift unter meinen Fingerkuppen und die auf die Pappe übertragene Körperwärme von Jake.
Er drehte sich zu mir um. »Die Tabletten dreimal täglich.«
»Also alle acht Stunden.«, ergänzte Miles.
»Was ist das?« Noah richtete sich mühevoll auf.
»Hey«, murmelte ich und sah ihn streng an. »Leg dich gleich wieder hin.«
»Du hast eine Blutvergiftung.«, klärte Jake auf.
Noah tastete sein Handgelenk ab.
»Am Bein«, sagte ich, öffnete die Verpackung des Medikaments und drückte eine der weißen Tabletten aus dem Plastik heraus. Miles reichte eine Wasserflasche nach hinten.
»Die Salbe hilft bei der Entzündung.«, sagte Jake beiläufig.
Auffordernd hielt ich Noah die Wasserflasche und die Tablette vor die Nase. Er zögerte für den Bruchteil einer Sekunde. Sein Blick huschte von Miles und Jake wieder zurück zu mir, bevor er sich schließlich die Tablette auf die Zunge legte und mit dem Wasser herunterspülte.
»Sehr gut.«, lobte ich und lächelte ihn sanft an. Noah verzog die Lippen ebenfalls zu einem Lächeln, welches jedoch eher gequält als fröhlich aussah. Das Kribbeln in meinem Bauch störte sich nicht daran. Hitze schoss mir in die Wangen und ich wandte mich ab. Noah legte sich wieder hin, mit angewinkelten Beinen, weil er zu groß für die Rückbank war, und ich guckte nach vorne, wo mich Jakes Blick streifte. Sein Gesichtsausdruck war weich, in seinen Augen war keinerlei Wut zu erahnen. Rasch drehte Jake den Kopf und brach den Blickkontakt. Ich beobachtete ihn noch eine Weile, aber irgendwann lehnte ich mit den Schläfen am Fenster und schloss die vor Müdigkeit schweren Lider.
In dieser Nacht träumte ich von meinem zu Hause. Ich erinnerte mich an meine Mum, und das schlechte Gewissen ihr gegenüber raubte mir jegliche Kraft. Es war unbeschreiblich, wie sehr ich mich nach einer Umarmung von ihr sehnte. Ich wünschte, ich könnte ihr Parfüm riechen und ihre Stimme hören, wenn sie mir liebevolle Worte ins Ohr flüsterte, um mich zu beruhigen und mir dabei zu helfen, nicht aufzugeben. Bislang hatte ich den Gedanken immer verdrängt, aber ich war mir plötzlich ziemlich sicher, dass ich kein zu Hause mehr wie früher hatte. Jedes Bild, das ich in meinem Traum sah, wirkte, als würde es in der Zukunft spielen. Meine Mum backte Kuchen, deckte den Tisch, wartete auf Dad und Conor. An der Wand unseres Wohnzimmers hing ein Kalender, auf dem die Drei, über das gesamte Gesicht strahlend, Eis aßen. Dann betrat Dad das Esszimmer und nahm Mum in den Arm. Sie schmiegte sich an seine Brust und lachte herzlich. Conor kam in den Raum. Er hatte zerzauste Haare und sein Trikot an. Vermutlich waren Dad und er soeben vom Football gekommen. Vielleicht hatten sie einen Zwischenstopp bei unserem Nachbarn gemacht, der am Ende des Ortes eine kleine Werkstatt hatte. Dort waren Conor und ich oft während unserer Ferien gewesen, weil Dad dort ausgeholfen hatte. Ich hatte früher überhaupt kein großes Interesse an Autos oder Motoren, doch Conor hatte es dort geliebt. Also waren wir regelmäßig in der Werkstatt gewesen und hatten einiges gelernt, das auch mich für Motoren begeistert hatte. Jetzt schien mein Bruder jemand anderes gefunden zu haben, mit dem er sich die kaputten Autos und ihre Reparatur anschaute. Allgemein schien jeder von ihnen nun ein Leben nach mir zu führen. Es erleichterte mich, dass sie die Situation überstanden hatten, auch wenn es mich gleichermaßen innerlich entzwei riss. Heiße Tränen kullerten mir über die Wangen und der seelische Schmerz in meinem Körper war schrecklicher als jede physische Verletzung, die mir jemand antun könnte. Ich hatte meine Familie verloren. Vielleicht dachten sie, ich sei tot. Vielleicht war ihr Leben nun um einiges besser, seitdem ich weg war. Sie vergaßen mich. Vergaßen, wie ich einmal ausgesehen hatte, verloren den Klang meiner Stimme aus ihrem Gedächtnis, jede Kleinigkeit, jede Erinnerung, die wir geteilt hatten. Irgendwann wurde all das weniger wichtig, bald darauf sogar irrelevant. Es gab neues zu entdecken, neues zu erleben. Jede Trauerphase würde nach einiger Zeit zu Ende gehen.
»Julie« Jemand rüttelte an meiner Schulter.
Ich schlug die Augen auf. Irritiert tastete ich mein Gesicht ab. Feuchte Spuren befanden sich auf meinen Wangen und meine Nase fühlte sich von innen ganz geschwollen an.
»Gehen wir ein Stück?«, flüsterte Noah.
Zuerst musste ich mich orientieren. Jake und Miles schliefen tief und fest. Draußen war es bereits dämmrig.
»Okay« Ich öffnete die Autotür.
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Nicht ohne dich
AdventureNoah ist so stur, so unberechenbar, so anders, als all diejenigen, die Julie bisher kannte. Und sie weiß, dass sie niemals eine Chance haben werden. Nicht nach dem Chaos, das Noah angerichtet hat. Nicht nach den Racheplänen, die er schmiedet. Doch w...