29. "Seelenverhältnisse"

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Es war kurz vor der Ausgangssperre, doch die meisten Siebtklässler saßen trotzdem noch in der Bibliothek und lernten für die Verwandlungsprüfung am nächsten Morgen. Elyna saß in der hintersten Ecke zusammen mit Remus Lupin und las sich zum fünften Mal denselben Absatz durch, weil ihr immer wieder die Augen zufielen.
Lily lernte mit James im Gemeinschaftsraum der Löwen, Josec hatte Sirius um Hilfe gebeten, weil der Gryffindor in Verwandlung immer nur Bestnoten hatte, und die restlichen Slytherins fragten sich gegenseitig in einem anderen Teil der Bibliothek leise ab. Warum Remus nicht bei seinen Hauskameraden war, wusste Elyna nicht, aber sie war froh darüber. Sie genoss die Gegenwart des Werwolfs.
Schließlich war es schon so spät, dass Madam Pince begann, die Schüler aus ihrer Bibliothek zu verscheuchen. Elyna klappte ihr Buch zu und räumte ihre Unterlagen zusammen. Dabei warf sie kurz einen Blick zu Remus, der ihr direkt in die Augen sah. Ganz so, als hätte er sie schon länger angestarrt. Der Gryffindor errötete leicht und Elyna hob fragend eine Augenbraue.
"Ist irgendetwas mit meinem Gesicht oder warum guckst du so komisch?"
Remus winkte lediglich ab und packte in Windeseile seine Sachen zusammen.
Elyna sah ihn noch kurz verwundert an, zuckte dann jedoch mit den Schultern und stopfte ihr Verwandlungsbuch in ihre Tasche.
Sie waren die Letzten, die die Bibliothek verließen und schlenderten nur langsam die dunklen Gänge entlang.
"Morgen fangen unsere Abschlussprüfungen an", murmelte Elyna irgendwann und blieb vor einem Fenster stehen, um einen Blick auf den Schwarzen See zu werfen.
Remus lachte leise. "Dafür haben wir ja auch die letzten Monate gelernt wie die Irren."
Elyna drehte sich zu ihm um und runzelte die Stirn. "Das meinte ich nicht. Mir ist gerade einfach nur aufgefallen, dass unsere Schulzeit danach vorbei sein wird. Wir werden in die große weite Welt entlassen und müssen uns dann selbst zurechtfinden." Sie sah auf ihre Hände hinab, an ihrem linken Ringfinger glitzerte der silberne Verlobungsring von Rabastan, den sie so gut wie nie abnahm. "Nach sieben Jahren Schule müssen wir jetzt unser eigenes Leben gestalten. Unsere Wege werden sich trennen - manche treten den Todessern bei, manche schließen sich dem Widerstand an. Manche werden vielleicht sterben, bevor sie zwanzig sind, andere gründen eine Familie, sobald sie die Schule verlassen haben." Elyna seufzte und sah zu Remus auf, der irgendwie traurig ihre Hände betrachtete. "Narzissa wird zwei Wochen nach Ferienbeginn heiraten, kannst du dir das vorstellen?" Sie lachte freudlos. "Das Leben ist so kurz", murmelte sie dann, zu leise als dass Remus sie verstanden hätte.
"Was ist mit dir?", fragte der Braunhaarige.
Elyna hob fragend eine Augenbraue.
"Wann wirst du heiraten?", präzisierte er also seine Frage und deutete auf den Ring an ihrem Finger.
Elyna zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es noch nicht so genau. Rabastan und ich haben es damit nicht so eilig."
Remus nickte lediglich und schien noch immer traurig und irgendwie auch enttäuscht.
Elyna verspürte plötzlich das Bedürfnis, ihm ihre "Seelenverhältnisse" zu erklären. "Weißt du, ich habe da dieses Buch - Die Wunder der Seele - und in dem werden einige Phänomene erklärt, die allerdings nicht unbedingt auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen." Remus wirkte nicht allzu interessiert, doch Elyna sprach trotzdem weiter. "Du hast bestimmt schon mal etwas von Seelenverwandtschaft gehört, oder? In der Muggelwelt wird es häufig mit Liebe verbunden, aber das muss nicht unbedingt sein. Es bedeutet lediglich, dass man sich in einem früheren Leben sehr gut gekannt hat, sodass auch noch Jahrhunderte später diese Verbundenheit nicht verschwunden ist. Rabastan glaubt, dass zu meinen Seelenverwandten zum Beispiel Narzissa und Severus gehören, weil wir uns häufig ohne Worte verstehen und oft sogar den Schmerz des Anderen teilen. Rabastan hingegen ist meine Zwillingsseele und das ist nochmal ein ganzes Stück stärker. Er sagt immer, dass ich früher vermutlich einmal eine berühmte Königin war, die von ihren Untertanen und ihrer Familie sehr geliebt wurde. Deshalb habe ich auch so viele Menschen, deren Seelen mit meiner in Verbindung stehen." Elyna hatte gar nicht so viel reden wollen, doch irgendwie war es einfach so aus ihr herausgebrochen.
Remus wirkte ein wenig überfahren und brauchte eine Weile, um ihre Worte zu verstehen. "Du und Lestrange seid also Zwillingsseelen", sagte er schließlich. Elyna war ein wenig überrascht, dass er bei allem, was er eben gehört hatte, sich genau diesen Punkt herausgesucht hatte, doch sie nickte. "Heißt das, du heiratest ihn nicht aus Liebe?"
Elyna wiegte den Kopf hin und her. "Das kann man so nicht sagen, denn ich liebe Rabastan wirklich, nur eben nicht auf romantischer Ebene. Als Zwillingsseelen fühlen wir uns stark zueinander hingezogen und wollen immer in der Nähe des Anderen sein. Deswegen heiraten wir ja auch. Durch die Hochzeit sind wir legal aneinander gebunden und niemand darf uns trennen, wenn wir das nicht wollen."
Remus schien nach ihrer doch recht ausführlichen Erklärung irgendwie erleichtert und öffnete den Mund, schloss ihn allerdings schnell wieder.
"Frag ruhig", sagte Elyna und nickte ihm zu.
"Wenn du und Lestrange Zwillingsseelen seid, was ist dann mit dir und Josec? Dass ihr eine Verbindung zueinander habt sieht ja wohl jeder Blinde."
Elyna lächelte leicht. "Ja, das mit Josec und mir ist schon eine Sache für sich. Ich denke, unsere Seelen bilden momentan - in diesem Leben - eine Seelenverwandtschaft aus. Wir waren immerhin schon seit frühester Kindheit zusammen und haben jedes Abenteuer gemeinsam bestritten. Dadurch dass unsere Verbindung so frisch ist, ist sie umso stärker. Manchmal fürchte ich mich ein wenig davor, wohin uns unser Weg führt, wenn wir ihn nicht gemeinsam gehen."
Elyna seufzte tief und war froh über die warme Hand von Remus, die der Gryffindor ihr auf die Schulter gelegt hatte.
"Weißt du schon, was du nach der Schule mal machen willst?", wechselte die Schwarzhaarige schnell das Thema.
Remus schüttelte den Kopf und ließ niedergeschlagen die Schultern hängen. "Für einen Werwolf ist in der Zaubererwelt kein Platz, deshalb werde ich mich wohl mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten müssen."
Elyna nickte verständnisvoll. "In manchen Dingen sind die Zauberer ein wenig rückschrittig, findest du nicht?", die Frage war rhetorisch gemeint und so antwortete Remus nicht. "Also, wenn du dir aussuchen könntest, was du später mal machen willst - unabhängig von deinem pelzigen Geheimnis - was würdest du dann tun?"
Remus überlegte nicht lange. "Ich wäre gerne Lehrer", sagte er leise. "Kindern etwas beizubringen fand ich schon immer toll und ich helfe auch gerne Sirius, Peter oder James, wenn sie etwas nicht verstehen."
Elyna nickte und verharrte schweigend vor dem Fenster.
"Was ist mit dir?", fragte Remus schließlich.
"Ich weiß es noch nicht genau", antwortete Elyna leise. "Nach der Schule werde ich auf jeden Fall Rabastan heiraten und somit wären jegliche finanzielle Probleme meinerseits geklärt. Ich könnte also studieren, was ich will, oder eine Ausbildung machen, bei der ich nicht viel Geld verdiene. Natürlich heirate ich Rabastan nicht deshalb", lachte sie, "aber es ist trotzdem schön, sich mal keine Sorgen über die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse machen zu müssen."
Remus zögerte kurz und fragte dann: "Wenn du dich vor der Hochzeit in jemanden verlieben würdest..."
"Dann würde ich Rabastan trotzdem heiraten", unterbrach Elyna den Gryffindor. "Ich hoffe, dass derjenige genug Verständnis aufbringen kann für meine komplizierten Seelenverhältnisse, ansonsten könnte ich mir ohnehin keine Zukunft vorstellen. Er muss schon verstehen, wo meine Prioritäten liegen."
Elyna glaubte, Remus schwer schlucken zu sehen bevor er seine Schultern straffte, doch da sie sich bei ihren Worten umgedreht hatte, um den Gang entlang zu laufen, war sie sich nicht sicher.
Remus folgte ihr schnell und brachte sie zum Slytheringemeinschaftsraum. Sie legten den Weg schweigend zurück, doch Elyna war ganz froh darüber. Der Gryffindor hatte ihre Gedanken ziemlich durcheinandergebracht und aufgewühlt. Sie versuchte krampfhaft, alles zu verscheuchen, das nichts mit der morgigen Verwandlungsprüfung zu tun hatte, doch es fiel ihr schwer. Immer wieder schlich sich ein gewisser braunhaariger Gryffindor mit seinen moosgrünen Augen in ihre Gedanken.
Schließlich standen sie vor der Wand, die den Gemeinschaftsraum der Schlangen verbarg.
Remus blieb in einem sehr respektvollen Abstand vor ihr stehen, deshalb kam ihr eine Umarmung zum Abschied unangebracht vor. Stattdessen tat sie das wohl dümmste, das sie hätte tun können - sie hielt ihm ihre Hand entgegen. Remus stutzte kurz, dann hob er seinen eigenen Arm und schüttelte ihre Hand. Er lächelte dabei und so konnte Elyna nicht anders, als zurückzulächeln.
Ausgehend von ihrer Hand, die Remus noch immer in seinem festen Griff gefangen hielt, breitete sich ein angenehmes Kribbeln in ihrem ganzen Körper aus.
"Danke", brachte sie schließlich heraus. "Dass du mich hergebracht hast... und dass du mir geholfen hast... und so..." Elyna hätte am liebsten ihren Kopf gegen die Wand geschlagen, so dämlich kam sie sich vor.
Doch Remus lächelte nur und nickte. "Ja... das kann ich nur erwidern."
Sie standen noch geschlagene zwei Minuten auf dem Flur und schüttelten sich die Hände, bevor Elyna sich schließlich ruckartig von ihm löste und einen Schritt zurücktrat. "Also... gute Nacht!", sagte sie viel zu hastig und flüsterte der Wand das Passwort zu. Sie war schon halb in ihren Gemeinschaftsraum eingetreten, da hörte sie: "Gute Nacht, Ly." Doch als sie sich umdrehte, schloss sich gerade die Wand und Elyna erhaschte nur noch einen flüchtigen Blick auf den zerlumpten Umgang von Remus.
Seufzend ging sie in ihren Schlafsaal, wünschte Narzissa eine gute Nacht und zog sich um. Danach schlich sie sich in den Jungenschlafsaal der Siebtklässler und kletterte dort in Rabastans Bett. Die anderen Jungen schienen schon zu schlafen, doch der Schwarzhaarige wartete wie immer auf Elyna. Sie mochte das irgendwie und deshalb war es zu einer Art Tradition oder eher einem Ritual geworden.
"Hey", flüsterte sie.
"Hey", kam die ebenso leise Antwort.
Elyna druckste ein bisschen herum, sodass Rabastan neugierig wurde. "Was ist los?"
"Naja, wir haben doch mal über die Hochzeit gesprochen und so..."
"Ja?", hakte der Schwarzhaarige nach, als Elyna nicht weitersprach. "Hast du es dir anders überlegt?"
"Nein!", widersprach sie ein wenig zu heftig. Avery drehte sich unruhig im Schlaf herum. "Nein, darum geht es nicht", sprach sie also leiser weiter. "Ich heirate dich auf jeden Fall, du wirst mich nicht so schnell los!"
Rabastan lachte leise - dieses liebevolle Lachen, das Elyna so sehr an ihm liebte. "Worum geht es dann?"
"Ich glaube, ich verliebe mich gerade", murmelte Elyna so leise, dass sie schon hoffte, der Schwarzhaarige hätte es vielleicht nicht gehört. Doch er hatte scheinbar bessere Ohren als sie gedacht hätte.
"Soso, du hast dich also verliebt?", fragte er nach, seine Stimme klang gespielt spöttisch und gleichzeitig nach irgendetwas, das Elyna nicht zuordnen konnte. "Wer ist denn der Glückliche?"
Elyna schwieg.
"Du willst es mir nicht sagen?", mutmaßte Rabastan und Elyna nickte. "Na schön, das ist ja immerhin deine Sache. Und was daran ist jetzt so schlimm?"
"Es ist überhaupt nicht schlimm!", protestierte Elyna hastig. "Ich... Ich wollte dir nur Bescheid sagen", ihre Stimme wurde mit jedem Wort leiser und sie kam sich unglaublich dämlich dabei vor.
Doch Rabastan lächelte nur, was sie im Dunkeln eher erahnte, als dass sie es wirklich sah, und zog sie plötzlich sehr nah an sich heran. Er schlang seine Arme um sie und küsste sie auf die Stirn. "Danke", sagte er schließlich. "Du hättest es mir nicht erzählen müssen, ich komme immerhin auch klar, wenn ich solche Dinge nicht weiß, aber so ist es mir lieber. Wir sind Zwillingsseelen, Elyna, und wir werden auf ewig zueinander gehören. Ich liebe dich so sehr!", hauchte er in ihren Haaransatz.
Elyna glaubte, seine Tränen auf ihrer Kopfhaut zu spüren und drückte sich stärker an ihn. Auch wenn Rabastan es nicht oft zeigte, tief in seinem Inneren war er ein ziemlicher Softie.
Elyna schlang nun ihrerseits ihre Arme um den Schwarzhaarigen und zog ihn fest an sich. Sie wischte ihm die Tränen von den Wangen und küsste ihn auf die Nasenspitze, woraufhin er gespielt beleidigt brummte. "Ich liebe dich, Rabastan", flüsterte sie. "Du wirst für mich immer an oberster Stelle stehen, verstehst du? Ich werde immer zu dir kommen, wenn mich etwas belastet, und du kannst umgekehrt auch immer zu mir kommen, okay? Ich liebe dich", wiederholte sie und zog ihn noch ein Stück enger an sich.
Sie lagen so nah beieinander, dass sie nur die Hälfte des Bettes benutzten, doch sie blieben die ganze Nacht in exakt dieser Position liegen, schmiegten sich aneinander und waren schlicht und einfach unendlich froh darüber, dass es den Anderen gab.

Nicht der Tod wird uns trennenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt