Meine Kopfschmerzen waren nicht zum Aushalten. Ich kann von Glück sprechen, dass mein Verstand noch funktioniert und ich nicht wie ein zwölfjähriger nach zwei Gläsern umkippe. Mein Gehirn erlaubte es auch nicht meinem Körper aufzugeben, aufgrund des Ereignisses. Es ist die Nacht, jene ich mir so intensiv ausmalte. Ich traf heute meinen verlorenen Freund wieder. Wir lachten und plauderten über das Vergangene, jetzt stehen wir nebeneinander im Fahrstuhl seines Wohnhauses. Keiner sagt ein Wort. Ich vernehme seine Körperwärme. Früher dachte ich, ich wäre sofort an Sehnsucht gestorben, wenn ich ihn sehen würde, jedoch ist es nicht so. Jede Kleinigkeit reicht mir vollkommen aus. Pure Dankbarkeit für den Moment, das verspüre ich und das macht mich glücklich. In meinem Leben zählt nicht mehr nur Arbeit und Geld, aufgrund von ihm. Er brachte die Freude meiner Jugend zurück ins Leben. Dadurch ende ich vielleicht nicht als verkorkster alter Mann, sondern als jemand, der nichts bereut.
„Komm", sagte er und schaute mir kurz lächelnd in die Augen. Ja, ich hab ihn sehr vermisst. Zusammen liefen wir immer die Schulflure entlang, dabei achtete ich darauf, dass er gegen niemanden läuft, während nun er nicht auf sein Handy starrt, sondern seine Konzentration auf mich richtet. Ich lief mit taumelnden Schritten ihm nach, bis er an einer schwarzen Tür stehen blieb, auf der die Nummer zwanzig stand. Schnell schloss er es auf und ließ mich herein. Gedämmte Lichter erhellten halbwegs den Eingangsbereich. An den weißen Wänden hängen Landschaftsfotos, die auch gut nur aus Google herausgesucht sein könnten, und neben der Tür steht ein schlichter Schuhschrank. Alles ist ordentlich und musterwürdig. Lebt Kenma in einem Katalog, oder was ist hier falsch? „Wo sind denn die ganzen Poster von Games und anderem Kram?", sprach ich meinen Gedanken aus. Es ist bestimmt nur ein Vorurteil gegen ihn, das sich in mein Kopf eingebrannt hat.
Meine Lederschuhe fanden Platz in dem gerade betrachtetem Schrank und mein Jackett wurde netterweise an einen Hacken gehängt. „Das ist nur meine kleine Ausweichwohnung, wenn ich zu lange in Tokio bleibe. Ich hab kein Interesse immer in Hotels zu hausen, da ist diese Bleibe viel komfortabler, auch wenn es nicht nach mir aussieht. Mein richtiger Standort befindet sich in Sendai, wo es mehr an mich erinnert", klärte er mich auf. Ausweichwohnung kann man dieses Apartment nicht nennen. Allerdings kann es sich ein erfolgreicher Youtuber und CEO wohlleisten, dagegen sprechen möchte ich nicht, zumal ich selbst nicht schlecht verdiene. Der junge Mann wank mir zu und ging dann in ein Zimmer rein, schnell folgte ich ihm. Dieser Raum hatte eine professionelle Beleuchtung, Greenscreens, Merch und ein Setup, ganz der Traum eines Gamers, welches in einem Ausweichort verstaubt.
„Du hast ja gefragt, welches Video ich meinte, das ich nicht gepostet hab. Das drehte ich, nachdem der Brief bei mir ankam, aber nie konnte ich mich überwinden es hochzuladen oder gar fertigzustellen. Ich war außer mich. Jedes einzelne Wort bereue ich, doch nun muss ich ehrlich sein. Setzt dich." Er zeigte auf ein Gamingstuhl. Ich ging der Forderung nach. Er setzte mir sein Headset auf und klickte die entsprechende Datei an. Nervosität kam auf. Ich versuchte mein Atem zu regulieren, damit ich nicht in Panik verfalle. „Es tut mir leid. Ich gehe auf den Balkon, komm nach, wenn es zu Ende ist." Sein Atem streifte mein Nacken. Gänsehaut breitete sich aus und in meinem Bauch kam das alte Gefühl hoch. Nichts hatte sich an den Gefühlen geändert. Okay, konzentrier dich auf das Video und nicht darauf, was in die vorgeht! Was soll schon so schlimm an einem Video sein? Mein Fokus gelangte endlich darauf, wodurch ich das zuknallen der Balkontür nicht bemerkte. Es begann...
„Heute mal ein scheiß anderes Video." Ein leerer Bürostuhl, wie ihn jeder kennt, stand vor einer schlecht gespannten Greenscreen-Leinwand. Dann lief der damals Jugendliche ins Bild und ließ sich dort nieder. Seine Puddinghaare standen verstrubelt ab. Seine Haut war blass und unter den Augen zeichneten sich gewaltige Augenringe ab. „Ich muss wahrscheinlich das Video oft zensieren, wenn es überhaupt ein Weg ins Internet findet, denn Fluchen ist mitinbegriffen." Wut spiegelte sich in seinen glasigen Augen wieder. So aufgebracht sah ich ihn nicht mal, als Lev ihn beim schlafen gestört hat. Der abgebildete Junge unterschiedet sich komplett von dem Mann, der gerade den Raum verlassen hat. Ich weiß jedoch, dass ist dieselbe Person, aber das Video zeigt den Beginn einer Entwicklung. „Heute ist der schrecklichste Tag und ich sage euch, wenn jemand jetzt an meiner Tür klingelt, den bring ich um. Heute ist der zwölfte April, der Tag an dem meine Mutter wieder abreiste. Doch sie hinterließ einen verfickten Brief von meinem zurückgebliebenen Ex." Mein Herz zog sich zusammen. Mein Brief hat ihn verärgert. Mein Brief hat das angerichtet. „Ich wollte abschließen, es beenden, anfangen mein Leben zu leben und es lief echt gut, bis du diese kacke geschrieben hast! Ich weiß, dass du das sehen wirst und ich will, das du weißt, nur so kann ich noch mein Schmerz verdauen. Du bist schuld an allem du Bastard!" Übelkeit stieg in mir auf. Ein Staudamm der Gefühle ist bei ihm eingebrochen. Das einzige, was ich will, ist diesen zerbrochenen Jungen zu umarmen. „Ich sagte 'Lebewohl', wieso kannst du es nicht einfach erwidern und mich in Ruhe lassen?" Eine Träne verließ seine Augen. Mein Körper bebte, wenn er zum sprechen ansetzte. Er nahm den zerknitterten Brief zur Hand und las einen Satz vor: „'Wahrscheinlich kannst du ohne Probleme weitermachen'. Ja, konnte ich, aber jetzt beginnt das alles von vorne. Wieder liege ich am Boden, wegen dir! Ich wollte nie jemand anderen, aber du hattest sie. Du hast sie mir vorgezogen! Bei jedem Erfolg in meinem Leben bekam ich nur einen Gedanken: Du bist nicht bei mir, weil du bestimmt bei diesem blonden Mädchen bist. Sie hatte mich immer nieder gemacht. Aber nein, sie ist doch perfekt. Sie ist alles, was ich hätte sein sollen. Älter, humorvoller, beliebter, sozialer... Sie ist doch die perfekte Bitch!" So hab ich ihn wirklich nie gesehen. Das ist eine Seite von Kenma, die nie jemand vernommen hat. Eine Seite die mich ersticht und zu Tode quält.

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Love-Game
FanfictieIch bin Kenma oder auch als „Kodzuken" bekannt. In meinem Livestream kam die Frage über meine Oberschulzeit auf und wie ich mich zum ersten Mal verliebt habe. Da ist eine lange Geschichte, aber ich werde sie nun an die Öffentlichkeit bringen. „Das...