Kapitel 55

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(02.12.2013)

„Danke, aber ich muss mich wohl selbst dransetzten", lachte ich und winkte meinem Kommutatoren verabschiedend zu, der in das Zimmer nebenan reinging. Langsam schloss ich meine Tür und starrte in den tristen Raum. Dieses Wohnheim war und wird nie mein 'Zuhause'. Der Ort, welcher am ehesten daran reicht, ist mein Elternhaus, gegenüber von seinem Wohnplatz. Oder besser gesagt: Zuhause ist ein Ort an dem der Mensch ist, den man am meisten liebt. Das hat mal Akaashi gesagt, glaub ich. Die Eulen hab ich auch lange nicht mehr gesehen: Allgemein ging ich die letzten Monate allein meinen Weg. Ich besuchte meine Familie nur während den Schulzeiten, um ihm nicht zu begegnen. Es ist keine Angst ihn zu sehen, sondern die Unsicherheit zusammenzubrechen. In den letzten Monaten schaffte ich es aus dem Loch zu kriechen, aber ein Bergauf gibt es noch immer nicht. Mit neunzehn Jahren sollte ich mich auf den ernst des Lebens fixieren und nicht verzweifelnd jemanden hinterher rennen, egal, wie stark meine Gefühle sind. Selbst die habe ich nun akzeptiert, doch ausleben kann ich sie nie wieder. Vielleicht ist es für uns beide am besten.

Ich schaute aus Gewohnheit wieder an meine Wand, wo damals das Poster hing, doch selbst das nahm ich ab und verstaute es behutsam in einem Umzugskarton. Ich konnte eine lange Zeit nicht abschließen, aber jetzt sollte es langsam gehen. Glaube ich.

Mein Handy klingelt. Das schrille Geräusch drang in meine Ohren und zerstörte meinen Gedankengang. Er bleibt wohl immer ein Hirngespinst. Ich griff nach meinem Telekommunikationsgerät und nahm den Anruf meiner Schwester an. Seit wann meldet sich Mako mal? Sie ist doch meistens mit dem Kopf wo ganz anders und vergisst jegliche Kontakte, das nehme ich ihr aber nicht übel. Sie war immer ein Freigeist.

„Tetsuro!", brüllte sie aufgewühlt. „Mako, schrei nicht. Ich hatte gerade eine nervenaufreibende Vorlesung und will jetzt erstmal Ruhe haben", erklärte ich es ihr, dabei stellte ich meine Tasche ab und setzte mich auf mein Bett. „Bisschen mehr Lebensfreude, aber das soll jetzt nicht Thema sein. Ich hab möglicherweise etwas gemacht, wodurch jemand anderes mehr Aufmerksamkeit erlangt hat. Wie soll ich damit umgehen?" Noch unpräziser kann sie es nicht erklären? „Mako, reagier doch einfach nicht drauf, wenn es nichts schlimmes ist." Sie zieht mich sonst noch in Dinge rein, welche mir vom lernen abhalten. Sie hat es irgendwie echt einfach. Okay, es ist bestimmt nicht einfach nach drei abgebrochenen Studien weiter zu machen, aber Mako bleibt dennoch positiv. „Hast du nicht Psychologie studiert? Da findest du für dich eine Antwort", sagte ich schulterzuckend.

„Tetsuro, du Arsch! Das war nur ein Semester", meckert sie mich an. Ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. „Heul nicht. Jetzt komm zum Punkt, schließlich hab ich noch Arbeiten vor mir, die erledigt werden müssen." „Wenn ich sage, um wen es geht, wirst du definitiv nichts für die Uni machen", gestand sie nervös. „Um wen sollte es bitte gehen?" Seufzend erhob ich mich wieder.

„Kenma. Es geht um Kenma."

Mein Lächeln erlosch. Wieder ließ ich mich auf mein Bett fallen und eine unbeschreibliche Übelkeit kam auf. Wenn ich dachte, ihn losgelassen zu haben, tritt er wieder in mein Leben. Obwohl er mir 'Lebewohl' sagte, verlässt er mich nicht. „Tetsuro?" Ihre Stimme war nur ein Fiepen, doch das reichte aus, um mich aus der Trance zu schmeißen. „Da-das geht mich nichts mehr an. Tschau, ich muss auflegen", stammelte ich.

„Tu nicht so, als würde es dich nicht interessieren. Gib zu, du machst dir jetzt Sorgen. Er könnte dir nie egal sein, deshalb habe ich dich auch angerufen." Du hast ja Recht. Kein Abstand der Welt könnte mich von ihm reißen, denn am Ende sind wir, auch wenn das Band zerschnitten scheint, verbunden. „Okay, ich bleibe dran. Was hast du jetzt getan, Mako", interessierte ich mich nun. Sag es schon! Was ist mit Pudding?!

„Raste nicht aus und lass mich ausreden", begann sie zu reden. Darauf gab ich keine Antwort. Manchmal bin ich noch immer so ungeduldig, wie er, wenn er auch ein neues Spiel wartet. Diese Erinnerung lässt Wärme in mir aufsteigen. „Damals als dieses Uni-Fest war, ging Kenma auch dahin, wo er sah, wie Mikasa dich küsste, erinnerst du dich?"

„Gott, Mako, sprich nicht diese widerliche Schande an", grummelte ich. „Tut mir leid, aber eine Zeitliche Einordnung macht das vielleicht verständlicher, weil-..." „Mako, du schweifst ab!" Sie kann sich echt nicht kurzfassen. „Sorry! Also damals kam er zu mir und ich war komplett überfordert, doch ich gab ihm eine Idee: Mach Videos, wie du spielst, und lad die hoch. Das hat er auch getan und so wurde er in schneller Zeit bekannt. Jetzt ist das geschehen, was ich nie erwartet hätte. Kenma ist jemand, der sich eigentlich aus der Öffentlichkeit hält, aber... Er hat sein Gesicht im neusten Video gezeigt und es geht durch jegliche Plattformen."

Mein Herz stockte. Jeder... Jeder kann ihn nun sehen und zuhören. Er steht in der Öffentlichkeit. Kenma hat kein Problem mit dieser Aufmerksamkeit?! Kenma ist echt jemand ganz neues.
Ich bin stolz auf ihn.

„Du rastest nicht aus?", fragte sie zögernd. „Ich bin froh darüber, dass er etwas hat, was ihm Spaß macht. Was soll ich bitte dagegen sagen? Kenma kann machen, was er will, schließlich müssen wir beide weiter machen. Aber wie heißt er auf der Plattform?" Es fällt mir echt schwer ruhig zu bleiben und nicht zusammenzuklappen.
„Kodzuken auf Youtube", erzählte Mako und ich bedankte mich. „Ich lege auf." Ich entfernte mein Handy von meinem Ohr und sofort öffnete ich die App

Kodzuken
Kodzuken
Kodzuken!

Ich tippte zitternd diesen Namen ein und auch gleich wurde dieses Video gezeigt.
'Hier mein Gesicht, weil ihr danach verlangt habt'

Bei dem Titel musste ich schmunzeln. Kreativ wie immer, Kitten. Gleich würde ich seine Stimme nach Ewigkeiten hören.

Mein Atem ging flacher.

Ich würde ihn wiedersehen.

Und dann startete das Video schon. Zuerst blickte ich auf ein schwarzes Display, ehe die Stimme ertönte. Jedes Wort brannte sich in mein ein. Sehnsucht kam auf und die Erinnerungen prasselten auf mich ein. Er ist es. Kenma ist wirklich dieser Kodzuken.

„Ehe ich meine Kamera starte, will ich nochmal alle vorwarnen: Sehen auf eigene Gefahr. Wenn ihr vor Schock umkippt, dann euer Pech", hörte ich seine amüsierte Stimme. Er klingt frei.

Kenma ist sorglos.

Mein Herzschlag dröhnt bis zu meinen Ohren. Doch dann erhellte sich das Video und die Kamera wurde scharf. Man erkannte ihn. Er fuhr sich durch die schulteerlangen Haare. Seine goldenen Augen glänzen und ein kleines Lächeln strahlt in die Kamera. Im Hintergrund stand der Greenscreen und alles sprach dafür, wie sehr er es liebte.

„Na ja, keine Ahnung, was ihr erwartet habt, deshalb gehe ich auf mein Gesicht eigentlich nicht weiter ein, obwohl, ich muss noch etwas sagen. Ich habe das früher nicht gemacht, weil ich erstmal etwas klären musste, was mich belastet hat. Doch nun kann ich vollständig das machen, was ich will und weil ich die Frage schon lese: Ja, ich fühle mich frei."

Ein Dolch durchstach mein Herz. Ich schaltete automatisch mein Handy aus und schmiss es von mir weg. Kenma kann ohne Probleme leben. Und ich? Ich werde nicht erwachsen und hänge, wie eine dämliche Mittelschülerin an ihm. „Nein, ich kann das nicht. Ich brauch Sauerstoff!" Mit rasenden Gedanken stürmte ich aus meinem Zimmer.

Ich kann nicht atmen!

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