10 - Händchen halten

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Vincents Jacke treiben wir bald auf. Es ist ein Wunder, und wahrscheinlich schulden wir den Erfolg allein unseren vereinten Kräften. Ich habe mich bis ganz nach unten durchgekämpft, als ich sie endlich unter einem grünen Parka entdecke.
„Ist sie das?", frage ich ihn und schnappe mir eine Jacke vom Boden, die zu seiner Beschreibung passt.
„Ja!" Seine Augen leuchten, dann setzt er denselben Gesichtsausdruck auf, wie ein Kind, dem man ein tausendteiliges Puzzle vorgelegt hat. „Ich hatte die doch an einen der Haken gehängt."
„Der Haken ist auch noch dran", informiere ich ihn und halte die Metallkralle hoch. Nach Vincent haben wohl noch ungefähr hundert andere Menschen ihre Jacke am selben Platz aufgehangen. Das Endresultat sieht aus wie ein Uri-Geller-Trick. Die Schraube ist durchgebogen und samt dem Haken aus dem Holzbrett gefallen. Vincents Augen werden groß, während er mir die Jacke abnimmt. Mit für seinen Pegel noch ziemlich geschickten Fingern befreit er sie. Alle anderen Jacken schmeißt er zu denen, die sich ohnehin längst zwei Meter hoch im Gang türmen. Ich schlüpfe unterdessen in meinen Trenchcoat.

„Hopp", fordere ich ihn auf.
„Seh ich vielleicht aus wie ein Hase für dich?", grummelt Vincent. Gleichgültig zucke ich die Schultern, drehe mich um und schnalze mit der Zunge, wie man es tut, um Pferde zu sich zu locken. „Hey", lacht er, packt mein Handgelenk und wirbelt mich zu sich herum. Wir stehen halb in der Wohnung, halb im Hausflur. Der Türrahmen kam mir auch schon mal größer vor. Wenn ich jetzt nach hinten ausweichen würde, würde ich prompt mit dem Rücken dagegen stoßen. Aber ich will genau hier stehenbleiben. Mein Gegenüber lächelt sanft. „Ich wollte irgendwas sagen, aber ich hab's gerade vergessen", gibt er offen zu und bringt mich damit zum Schmunzeln.

„Komm", fordere ich ihn auf und greife nach seiner Hand. Vincent verschränkt seine Finger sofort mit meinen, und ich bin nicht sicher, ob er es bewusst getan hat. Er sieht mir aufmerksam in die Augen. „Setzen wir dich in ein Taxi", fahre ich fort.
„Okay", stimmt er zu und verlässt mit mir zusammen die Party. Ohne meine Hand dabei loszulassen. Wir laufen die Treppen runter und ich spüre, dass mich die Berührung nervös macht. Auf eine kribbelige, gute Art. Aber als wir unten angekommen sind, lasse ich ihn doch los. Vincent mustert mich schief. Die Erkenntnis, dass wir Händchen gehalten haben, holt ihn schleichend ein. Im Licht der Straßenlaterne wird er rot. „Äh ... Tut mir leid." Um ihn ein wenig zu ärgern, fahre ich mit der Hand, die ich ihm entzogen habe, über mein Hosenbein, als wollte ich sie trocknen. Vincent führt seine Hände zueinander und befühlt sie. „Du willst mich nur auf die Schippe nehmen", stellt er mürrisch fest und ich lache.
„Da könntest du recht haben. Du machst es mir aber auch verdammt leicht."

Vincent schüttelt den Kopf.
„Unfassbar. Weißt du, ich find das nicht gut, wie du meinen betrunkenen Zustand ausnutzt", schmollt er beleidigt.
„Du hast mir vorhin an den Arsch gefasst im Badezimmer. Vielleicht ist das also nur deine Ausrede für unzüchtiges Verhalten und du bist gar nicht so betrunken, wie du vorgibst", provoziere ich ihn.
„Oh, doch", erwidert er und zieht dabei die Augenbrauen hoch. „Das bin ich. Du hast mich und die Kloschlüssel doch gesehen. Wir haben einander im Laufe des Abends noch so viel besser kennengelernt; sie war da, als ich sie gebraucht habe. Aber dann bist du plötzlich aufgetaucht und hast dich zwischen uns gedrängt."
„Oh, nicht doch", spiele ich die Besorgte. „Es war ein Versehen, ich wollte dich der Kloschüssel nicht ausspannen, wirklich nicht."
„Tja, spar dir deine Entschuldigungen. Die Kloschlüssel hat dir vertraut, Charlotte."
Wieder muss ich lachen. Vincent versteht sich darauf, eine Pointe rüberzubringen.

Wir grinsen uns einen Moment lang im Stillen an. Das leise Gemurmel von der Party tröpfelt zu uns runter, und bei einem der Nachbarn im Haus läuft die nächtliche Wiederholung eines Bundesligaspiels. Die Geräusche werden dumpf, stattdessen nehme ich wahr, wie mein eigener Atem geht, als Vincent sich langsam vorbeugt. Ein, aus; ein, aus. Und das in einem Rapido-Rhythmus. Ich schaue auf seine Lippen, kann mir nicht helfen – Neben uns hupt es auf einmal.

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